Dienstag, 13. September 2011

Der Jahrhundert-Sprung (Teil VI)

Von Raimund Vollmer

6. Der neue Kapitalismus

Was immer man heute, 2011, denken mag, die immense Euphorie, die dem Crash von 2000 vorausging, erzeugte einen Strukturwandel, der unumkehrbar zu sein scheint:

- der Wandel vom Arbeitnehmer- und Staats-Kapitalismus

- zum Aktionärs- und Kundenkapitalismus.

Ein Trend, der sich bereits zu Beginn der neunziger Jahre anbahnte. »Es waren die Konsumenten, die [die Wirtschaft] in die Expansion führten. Wenn sie sich weiterhin zurückziehen, dann sitzen wir auf dem Trockenen«, behauptete im Mai 2000 Mark Zandi, Chefvolkswirt bei Economy.com.[1] Dann ginge nichts mehr – weder beim Verbrauch, noch an den Aktienmärkten.

Aber der Strukturwandel setzte eigentlich noch sehr viel tiefer an: bei der Ausgestaltung der Wirtschaftssysteme zur Wissensgesellschaft. Schon 1995 bemerkte Gary S. Becker, Wirtschaftsnobelpreisträger von 1992: »In den modernen Wirtschaften verlangt das Wachstum eine ausgebildete und geistig durchtrainierte Arbeitnehmerschaft. Denn die Produktion von Computern und andere Formen der Elektronik wie überhaupt die meisten Herstellungsgüter und Dienstleistungen benötigen den Wissensarbeiter. Eine Wirtschaft wächst schneller, wenn die Ertragsraten beim Humankapital steigen oder wenn der Betrag an investiertem Kapital größer wird.«[2] Je höher dieses Wissenskapital, desto leichter lassen sich Rezessionen überwinden. Selbst ein Krach an der Börse könne die Wirtschaft nicht wirklich bedrohen. Mehr noch: Auch wenn die Wissensgesellschaft diejenigen bevorzugt, die über mehr Wissen verfügen, so steige trotz der größeren Unterschiede zwischen Arm und Reich insgesamt der allgemeine Lebensstandard. Und das lag natürlich auch daran, dass die neuen Technologien mit ihren Steigerung bei Preis und Leistung die Kundenseite stärkte. Die Wissensgesalleschaft schuf sich ihre eigenen Abnehmer. Die saßen im Internet, waren selbst nichts anderes als Wissensarbeiter.

»Die meisten Großunternehmen agieren immer noch in der Annahme, dass das, was sie herstellen und verkaufen können, auch von jemandem gekauft wird«, warnte in der Financial Times Roger Camrass, Vicepresident bei Cap Gemini Ernst & Young. »Aber diese Annahme erodiert. Die Kunden haben die Wahl – sie müssen es nicht kaufen.«[3] So erlaube das Netz einen jederzeitigen Preisvergleich. »Man kann sich nicht verstecken. Die Kunden wissen alles über Sie«, assistierte Schutte.[4] Der Informationsvorsprung, den bislang die Produzenten genossen, sei dahin. Die Konsumenten hätten gleichgezogen. Wirklich?

So gäbe es immer wieder Meldungen über Versuche von Anbietern im Netz, die das Verhalten der Benutzer ausschnüffelten. Doch diese Attacken der Cookies und zBubble würden immer wieder von aufmerksamen Surfern entdeckt und an den Pranger gestellt. Im Netz und in den Medien. Prompt stellten dann die bloßgestellten Anbieter ihre Schnüffelsoftware ab. Trotzdem sollten 22 Millionen PCs weltweit von diesen sogenannten E.T.-Programmen befallen sein. Sie würden deshalb nach Stephen Spielbergs außerirdischem Lebewesen genannt, weil auch E.T. alles, was es über die Menschen erfuhr, nach Hause sendete. Aber schon stünden in den USA die ersten Sammelklagen von Benutzer gegen allzu neugierige Anbieter an, bei denen bis zu 500 Millionen Dollar Schadenersatz verlangt würden, bahnte sich ein neues Betätigungsfeld für Juristen an. Die Kunden würden sich nichts mehr gefallen lassen. Mehr noch: Viele von ihnen schrieben in ihrer Freizeit kleine Programme, mit denen sie selbst auf Cookie-Jagd gehen und die sie anderen zur eigenen Verwendung überlassen.[5]

Hinzu komme, dass die Anbieter künftig viel zu sehr auf die vertrauensvolle Kooperation der Netizens angewiesen seien, um solche unsauberen Methoden noch durchsetzen zu können. 1998 behaupteten Stand Davis und Christopher Meyer, Wissenschaftler am Ernst & Young Research Center, in ihrem Buch »Blur: The Speed of Change in the Connected Economy«, dass sich die Unterschiede zwischen Produzent und Konsument desto mehr auflösen, je intensiver sie untereinander Informationen austauschen. Damit sei nicht nur das Einkaufsverhalten gemeint, sondern der Kunde steuere wesentliche Produktinformationen bei. »Der Käufer verkauft die Dienstleistung Qualitätskontrolle an die Geschäfte«, meinten die beiden Autoren.[6]

Nicht nur intellektuell, sondern auch technologisch hätten die Konsumenten aufgeschlossen. Dank PC. Dank Internet. Dank Browser. Meinte vor elf Jahren dessen Erfinder, der Netscape-Gründer Marc Andreessen: »Schauen Sie auf die vergangenen fünf Jahre und all den Wandel, den wir zu gegenwärtigen hatten: 200 Millionen Menschen und mehr am Netz. Es ist heute ein Teil der Landschaft – 200 Millionen Verbraucher, die das Internet verstehen und wissen, wie es zu nutzen ist. Ihre Erwartungen wurden davon geprägt«,[7]

Ihre bislang wichtigste Erwartung war, dass sie im Netz stets den besten Preis bekommen können. Inzwischen können die Kunden sogar darauf setzen, dass die Anbieter im Web selbst schärfste Konkurrenzanalysen vornehmen, um jeden anderen zu unterbieten oder durch Leistung zu übertrumpfen. Dieser Wettbewerbsdruck sei es, der in den nächsten Jahren alle Unternehmen ins e-business zwinge. Angestoßen würde er nicht so sehr von den dot.coms, sondern vielmehr von den Konsumenten, die gnadenlos den Preiswettbewerb anheizten, der nun selbstverständlicher Bestandteil des Internets ist.


[1] Fortune, 22.1.2001, Suzanne Koudsi: »The Fed fights back«

[2] Business Week, 6.2.1995, Gary S. Becker: »Maybe the earnings gap isn´t such a bad thing«

[3] Financial Times,, 17.11.2000, Andrew Fisher: »Bewildering change in the boardroom«

[4] Financial Times,, 17.11.2000, Andrew Fisher: »Bewildering change in the boardroom«

[5] Time, 31.7.2000, Adam Cohen: »Spies among us«

[6] Tme, 10.8.1998, Thomas K. Gross: »A New Kind of Marketplace«

[7] Fortune, 9.10.2000, Rick Tetzeli, David Kirkpatrick: »Marc Andreessen«

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