Samstag, 16. Februar 1974

Die Anfänge von Unix

Es begann damit, dass 1964 das Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cam­bridge einen Großauftrag zu vergeben hatte. Ein sogenanntes Time-Sha­ring-System sollte entwickelt werden. Time-Sharing - das heißt, viele Benutzer können gleichzeitig auf einen Rechner zu­greifen, wobei der einzelne Benutzer den Eindruck hat, dass die Maschine ihm ganz allein zur Verfügung steht. Eine tolle Sache in einer Zeit, die noch nicht den PC kannte.
Es war ein sehr avantgardistisches Projekt, um das sich neben IBM auch der Elektronik-Hersteller General Electric be­warb. Und diese Firma bekam den Zu­schlag. Mit von der Partie waren der Flugzeug­bauer Northrop und auch die Bell Laboratories - das For­schungs­labor, das damals noch zu Ame­ri­can Te­le­pho­ne & Telegraph (AT&T) gehörte und heute Teil des Spin-Offs Lucent ist.
AT&T war zu jener Zeit im Be­griff, ihr gesamtes Fern­mel­de­netz zu elektronisieren und wollte das größte Computernetz der Welt errichten. Über dieses Compu­ter­netz sollte
- nicht nur der ge­samte Telefonverkehr gesteuert wer­den,
- sondern auch der Daten­austausch zwischen entfernten Bild­schirm­ge­­räten und zen­tra­len Computern.
Dieses Geschäft - das war klar - würde durch Time-Sharing er­heb­lich anwachsen.
Natürlich war IBM über den Verlust dieses Auf­trags nicht gerade glücklich. So richtig glücklich wur­den indes auch weder General Electric, Northrop, die Bell Labs noch das MIT. Die Ent­wicklung des neuen Betriebssystem, das MULTICS genannt wurde, er­­wies sich als äußerst komplex.
MULTICS war vor allem in den Augen der Bell Labs zu ei­nem über­­dimensionierten Betriebssystem geraten, das auf der Entwicklungs­seite sehr schwer zu managen war. Der Zeit­rahmen wurde deut­lich überschritten. Erst 1970 - mit drei Jahren Verspätung - wur­de das Betriebssystem ausge­liefert. Übrigens nicht von General Elec­tric. Die Firma hatte sich am 20. Mai 1970 aus dem Computer­ge­­schäft zu­rück­gezogen und ihre Aktivitäten an Honeywell überge­ben. Und erst 1973 war Multics kommerziell verfügbar.
Die Bell Labs hatten sich 1969 fru­striert aus diesem langwierigen Projekt verabschiedet. Unzu­frie­den waren die Entwickler vor al­lem über die Art und Weise, wie dieses Betriebs­sy­stem entwickelt wurde. Sie hatten eins gelernt: Die Software-Entwicklung mußte künftig anders vonstatten gehen.
Da kam ein Computerwissenschaftler namens Ken Thompson, der seit 1966 bei den Bell Labs arbeitete, auf die aufregende Idee, ein neues, klei­ne­res und modular aufgebautes Be­triebs­system zu schaf­­fen. Er schrieb es in der hardwarenahen Spra­che Assembler, und es war darauf angelegt, selbst komplexen Anforde­rungen zu genü­gen. Damit konnten Programmier­arbei­ten auf verschiedene Gruppen verteilt werden, die statt auf ei­nem einzigen Großrechner mit eigenen Minicomputern arbeiteten.
Damals dachte man vorwiegend in Groß­systemen - und so war die­ser neue Ansatz schon revolutionär. Aber 1969 war ja auch das große Jahr des Aufbruchs und der Ver­än­de­rungen. Die ersten Menschen waren auf dem Mond gelandet, der Mythos Woodstock ent­stand, in Bonn etablierte sich die sozial-li­berale Koalition, Charles DeGaulle war in Frankreich zurück­getreten. Stu­dentenunruhen über­all. Die Turnschuh-Genera­tion befand sich auf dem Marsch durch die Institutionen. Und auf einen solchen langen Marsch begab sich auch dieses neue, noch namenlose Be­triebs­sy­stem, das in seinem ganzen Charakter dieser neuen Generation ent­sprach.
Die erste und lange Zeit einzige Institution, die es eroberte, waren die Bell Labs. Das neue Betriebssystem sollte hier als ein einheitliches Ent­wick­lungs­werk­zeug für die Software-Erstellung eingesetzt werden. Mit ihm sollten also vor allem Programme ef­fizienter geschrieben werden. Ein hochaktuelles Thema.
Zu jener Zeit, 1968, war auf einer NATO-Konferenz die so­ge­nannte Software-Krise ausgerufen wurden, die in den siebziger Jahren die Schlagzeilen der Fachpresse besetzte. Alle Welt begab sich auf die Suche nach Methoden und Möglichkeiten, die Software-Herstel­lung effizienter zu gestalten. Und in diese Zeitströmung klinkte sich auch das Betriebssystem ein. Es zielte damit auf eine sehr junge, sehr engagierte Be­rufs­gruppe, die Software-Ingenieure bei den Bell Labs.
Die Programmierer dort waren aber nicht nur deswegen be­gei­stert. Sie plagte noch ein weiteres Problem: die Technologie änderte sich ständig. Das hat­te zur Folge, dass eine Anwendung, die für eine Technologie ent­wickelt worden war, auf einem anderen System nicht mehr lief. Je­des Programm musste mit jedem Hardware-Wechsel umgeschrieben werden. Und der Einzug des gerade erfundenen Mikroprozessors würde einen neuen, verwirrenden Technologie-Schub bringen.
So war der mächtige Wunsch da, ein Be­triebssystem zu schaffen, das allein die Schnitt­­stelle zu den Anwendungen dar­stellte. Dann brauchte man nur noch das Be­triebs­system an die jeweilige Hard­ware anzu­passen. Die Forderung hieß also Offenheit.
Diese Offenheit äußerte sich in einer damals sehr idealistisch an­mutenden For­de­rung:
Eine Computeranwendung, die auf der Hard­ware eines be­stimm­ten Fa­bri­kats läuft, soll ohne Änderung über­trag­bar sein auf das Sy­stem einer anderen Marke. So schön diese Forderung nach Portabilität war, so wenig realistisch er­schien vie­len deren Erfüllung. Betriebs­system und Hardware bildeten nach vor­herrschender Meinung ein so intensives Gespann, daß man sie von­einander nur schwer trennen könne.
So herrschte bei den etablierten Computerherstellern und deren Kunden große Skepsis, ob so etwas überhaupt mach­bar war. Nach ihrer Meinung würde ein solches abgetrenntes Betriebssystem nicht in der Lage sein, alle Funktionen abzudecken, die für die Kom­plett-Versorgung eines Unternehmens mit EDV-Lösungen notwendig waren. Und damit hatten sie auch recht.
Zum anderen aber sprachen juristische Gründe gegen eine große Ak­zeptanz.
1956 hatte AT&T in ei­nem Antitrust-Verfahren einem Ver­gleich zu­ge­stimmt, der dem Fern­mel­de­riesen, dessen Bell Labs 1947 den Tran­­sistor, den Grund­baustein der modernen Elektronik, erfunden hatte, den Verkauf von Com­pu­ter­n verwehrte. Die US-Regierung hat­te damals Sorge, dass AT&T neben dem Fernmeldebereich auch das gerade beginnende Computer­geschäft monopolisieren könne. Deshalb durften die Bell Labs Ent­wick­lun­gen, die außerhalb des reinen Telekom­mu­nikationsbereichs lagen, nicht kom­mer­zialisieren.
Sie durfte es allerdings an andere, nicht auf Profit ausge­rich­tete Körperschaften, also z.B. an Uni­versitäten, gleichsam ver­schenken. Diese Großzügigkeit konnte sich AT&T durch­­aus lei­sten. Denn das Unternehmen war 1969 mit einem Ge­samt­vermögen von 53,2 Mil­liarden Dollar die mit Abstand reichste Fir­ma der Welt. Auf neue Pfründe war es nicht an­gewiesen.
Aber wenigstens einen Namen durfte das neue Be­triebssystem haben. Es wurde schließlich 1970 auf den Namen UNIX getauft. Für was steht nun UNIX? Das ist eine Kom­bi­nation aus dem Verb Unify - das steht für Ver­ein­heitlichen - und MUL­TICS. An den Vorteilen dieses Be­triebssystems setzte UNIX auf. Es unterstützte den bereits oben beschriebenen inter­ak­ti­ven Umgang mit einem Computer, auf den mehrere Benutzer zu­grei­fen, wobei jeder den Eindruck hat, der Rechner würde allein für ihn arbeiten.
Der wichtigste Anspruch war aber die Hardware-Unabhängigkeit. Doch die Wirklichkeit sah zuerst ein­mal ganz anders aus. Träger des neuen Betriebssystems war nämlich in den ersten Jahren nur ein ein­zi­ger Rechnertyp: die PDP-7 der Di­gi­tal Equipment Corpo­ration. Auf diesem Rechner wurde UNIX 1971 erst­mals imple­men­tiert. Dieser Minicomputer wurde auch intensiv für das Computer­spiel "Star Trek" genutzt. Mittags ging deswegen in den Bell Labs immer die Rech­nerleistung in den Keller.
Leider zeigte sich, dass es UNIX nicht gelang, die Hardware-Abhängigkeit zu brechen. Es wurden zeitweilig mehr als 250 Varianten gezählt, ohne dass die Marktforscher das Gefühl hatten, alle Derivate erfasst zu haben. Trotzdem hatte Unix durchaus Erfolge zu verbuchen.
1974 besuchte der UNIX-Er­finder Ken Thompson die Universität von California in Berkeley, an der er übrigens Elektrotechnik studierte hatte. Thompson stellt sein Betriebs­sy­stem vor. Und dessen Portabilität faszi­nier­te sofort die Stu­den­ten und Wissenschaftler. AT&T schenkte es 1975 der Universität von Berkeley. Sie wurde das Mekka von Unix, zumal das Pentagon diese Hochschule auch noch finanziell da­bei un­terstützte, dieses Betriebssystem wei­ter zu pflegen. So entstand die berühmte Version 7.
Dieser Neu­fassung, die schließlich in dieser berühmten Version 7 konsolidiert wurde, war es vor allem zu verdanken, dass dieses Betriebssystem portabel wurde. Es galt nun als maschinenunabhängig. Der Marsch durch die Institutionen konnte endgültig beginnen.
Dieses UNIX bestand wie eine Kirsche oder wie eine Pflaume aus einem harten Kern. Und es bestand aus einem Fruchtfleisch, aus soge­nann­ten Dienstprogrammen. Das war nun eine große Verlockung für die Computerwissenschaftler. Sie fingen an, wie Biogene­ti­ker um den harten Kern herum ein neues Fruchtfleisch heranzuzüchten. Nach und nach entstand eine üppig wuchernde Obstkultur. Es gab un­end­lich viele Versionen von Unix, die man miteinander ver­glei­chen konn­te wie Äpfel mit Birnen. In der Mitte dieses Versuchs­labo­ra­toriums stand die Universität von Kalifornien.
Die Versuche der Bell Labs, den Wildwuchs zu beschneiden, waren nicht sonderlich erfolgreich. Mehr noch: 1976 begann AT&T damit, auch Firmen aus dem Computerbereich Lizenzen anzubieten. 1979 stellte AT&T unter dem Begriff Unix Version 7 die konsolidierte Fassung ihres Betriebssystems vor, die von den Computerfirmen ver­stärkt akzeptiert wurde.
Die­ Abnehmer bekamen allerdings außer dem Quellcode, also der reinen UNIX-Software, keinerlei Unterstützung von den Bell Labs. Diese durfte ihnen auch AT&T nicht gewähren. Das war ihr ver­bo­ten.
Die kommerziellen Lizenznehmer, die ja nicht wie AT&T juri­sti­schen Restriktionen unter­wor­fen waren, kooperierten mit Berkeley. das sich zur höchsten Instanz im jungen Unix-Markt entwickelte. Es entstand ein reger Gedankenaustausch, zumal ab 1979 viele Stu­denten, die an ihrer Universität mit Unix gearbeitet hatten, nun in das Erwerbsleben eintraten. Sie gingen zu Computerfirmen und bil­deten dort eine UNIX-Lobby. Die entstand natürlich auch bei den Anwendern, wo die Hochschulabgänger ebenfalls Stimmung für das Betriebssystem erzeugten. Es formierte sich eine welt­weite UNIX-Szene, die sehr intensiv miteinander kommunizierte.