Samstag, 20. Oktober 2012

DER CRASH VON 1987 (Teil 6)



1992: »Die schiere Geschwindigkeit, mit der die Kurse 1987 in den Keller rasten und über die gesamte Welt hinweg in anderthalb Tagen ein Viertel ihres Wertes verloren, fasziniert immer noch.«
Financial Times am 19.10.1992, also fünf Jahre später[1]

Chicago versus New York


 Beim programmgesteuerten Handel errechnet der Computer Kurs­dif­fe­ren­zen zwi­schen Termin­kon­trak­­­ten und den ih­nen zugrundeliegenden Ak­­tien und gibt in Sekun­den­schnel­le ent­spre­chende Order an die Bör­se.[2] Der Ort für die Terminkontrakte war dabei Chicago. Hier konnten - wie zuvor nur bei Schweinebäuchen und Weizen - seit Beginn der achtziger Jahren Wetten darüber ab­geschlossen werden, in wel­che Richtung sich ein be­stimmter Aktien-Index entwickeln würde, ohne dass man die dem Index unterlegten Aktien di­rekt erwerben musste. Dabei verlangte der Chi­cago Mercantile Ex­chan­ge, der das Gescäft mit dem indizierten Handel innoviert hatte, nur einen Einschuß von sieben Prozent der Summe. Für die Aktien selbst aber war New York der Ort des Geschehens.
Da beide Märkte nicht syn­chron laufen, so die Theorie, besteht der Trick da­rin, diese Ano­ma­lien zu erkennen und dann das Geschäft von einem Markt zum anderen blitzschnell zu ver­la­gern. Eine hoch­ka­rä­ti­ge Elite von »Ra­ketenwis­sen­schaftlern« ent­wickelte hyperef­fi­ziente Formeln, um von diesen Differenzen in den Märkten zu profi­tieren. Das Pro­blem war nur, dass die Spannweiten mit der Zeit immer ge­rin­ger wurden, je intel­li­genter die Program­me wurden. Immense Sum­men mussten in immer mehr Termin­kon­trak­te hineinge­steckt werden, um von den hauch­zar­ten Unterschieden überhaupt noch pro­fi­tieren zu kön­­nen. Zwischen 1982 und 1987 verzehnfachte sich die Zahl dieser Aktien-Ter­min­kon­trakte auf 20 Millionen und erreichte damit eine Größen­ord­nung, die die Zahl aller Futures von 1972 über­traf. Hin­ter die­sem Anstieg standen große Anleger wie Investmentfonds, Wert­papier­häu­ser oder Ver­si­cherungen ‑ und natürlich der massive Ein­satz von Computerleistung.
Die allgemeine UnVersicherung. Das Zusammenspiel hatte bislang be­stens funktioniert. Selbst in den beiden Börsentagen vor dem Crash hatten die Arbi­tra­geure das plötzliche Auseinanderlaufen beider Märkte ‑ der Unter­schied erreichte sechs Prozent ‑ noch ruhig und besonnen ge­ma­nagt. Die Computermodelle funktionierten.
Die Edelprofis hat­­ten gutes Geld dabei verdient. Doch am Montag, 19. Ok­tober, erlitt die Termin­bör­se »einen Herzanfall« (Financial Ti­mes), und das schöne Spiel mit dem Index funktionierte nicht. Der Grund dafür war eine weitere Optimierungs‑Tech­nik: die sogenannte portfolio in­surance, die ‑ wie sich herausstellte ‑ das genaue Ge­genteil einer Ver­si­cherung war und das Modell des programm tradings verunreinigte.[3] Die Idee dahinter stammt aus den siebziger Jahren. Ausgedacht hat­ten sich diese Versicherung zwei Professoren von Berkeley. Ihre Na­men: Hay­ne Leland und Mark Rubinstein. Sie hatten 1984 einen Part­ner gefunden, den Invest­ment‑Berater John O'Brian ‑ und der Verkauf der port­fo­lio insurance über die gemein­sa­me Firma begann. 1986 wa­ren in den USA ein Vermögen von etwa 45 Milliarden über dieses In­stru­ment »ver­sichert«, 1987 hatte sich das Volumen auf 70 Mil­liar­den Dollar nochmals stark erhöht. Dabei war die Versicherung nichts an­deres als ein intelligentes Stück Software, eine Com­pu­ter­stra­te­gie in einem milliardenschweren busi­ness.
Der Kniff dabei war: Anstatt die Aktien zu verkaufen, deren Werte südwärts tendierten, konnten die Kunden durch Einsatz ihrer port­fo­lio in­su­ran­ce die Papiere halten. Sie mussten nur ihre Ter­min­kon­trak­­­te plündern.
Wenn der Markt weiter fallen sollte, dann würde der Er­­­lös aus den Termingeschäften die Verluste an der Ak­tien­börse kom­pen­­sie­ren. Dreht sich der Markt, mussten die Anleger zwar Ein­bußen in ih­ren Termingeschäften hinnehmen, dafür aber wur­den sie durch den An­stieg der Aktie mehr als belohnt. Das System schien wunder­bar zu funk­tionieren. Aber in der Baisse war es noch nie er­probt wor­den. Der Feldversuch geschah dann am 19. Okto­ber 1987.
Kaum hatte am Schwarzen Montag die Aktienbörse in New York eröff­net, gin­gen die Kurse in den Keller. Jetzt griffen die Investoren zu ihrer portfolio insurance. Alle hat­ten ihren Finger am Trigger und der Terminmarkt kollabierte. An­gesichts der immensen Flut von Aufträgen mussten die Arbi­tra­ge‑Tech­niken versagen.

Kein Parkplatz für die Queen Mary. Eine Kettenreaktion zwischen Chi­­cago und New York wurde ausgelöst. Je weiter die Terminkon­trakte fielen, desto mehr stürzten die indizierten Aktien. Je tie­fer die New Yor­ker Werte absackten, de­sto mehr rissen sie das Ge­schehen in Chicago mit sich. Die Wells Fargo Bank ver­kaufte allein futures im Wert von 1,6 Milliarden Dollar.[4] Andere pulverten kaum geringere Beträge hinein. »Es funktionierte nicht annähernd so gut wie die Leute gedacht haben. Es führte zu einer Volatilität, weil die Leute auf dem Weg nach unten immer mehr verkauften«, meinte Pro­­fes­­sor Burton Mal­kiel von der Yale‑University.[5] Der Rechenfehler bestand darin, dass ‑ wenn alle ver­kaufen ‑ nie­mand da war, der die Terminkontrakte er­warb. Selbst die Zentralbank konnte gar nicht so schnelle eingreifen. Es gab nie­man­den der Aktien oder Optionen kaufte. Die Investoren »schauten nach den großen lokalen Mit­spie­lern [in Chicago], die ihren Part des Geschäftes übernehmen soll­ten. Aber niemand wollte sich dem Gü­terzug in den Weg stellen«, er­läu­tert anschaulich Barry Haigh, ein Händler in Chi­cago, der schon ei­ne Weile vorher einen solchen Crash hatte kommen sehen. Noch pla­stischer erklärte Robert Kirby von Capital Guardian Trust die Er­eig­nis­se: »Es war so, als wenn ein Kerl die Queen Mary zu einem Parkplatz steuert und sich dann da­rü­ber beschwert, dass nie­mand für ihn einen Platz reserviert hat.« Das war das Unerwartete gewesen ‑ das Fehlen der Liquidität.
Nicht nur in Chicago fehlten Käufer, auch an der New Yorker Börse warfen viele der 450 Markt­ma­cher das Hand­tuch. Gegen die kon­zer­tier­te Macht der Computer, die auf beiden Seiten wirbelten, hatte keiner eine Chance.[6] Der Computer hatte das Unerwartete selbst inszeniert.
Vor allem das Ausland schaute mit Entsetzen auf das, was der Com­pu­ter an der Wall Street ange­richtet hatte. Die port­fo­lio insurance wurde nur in den USA eingesetzt, vie­le Bankleute hat­ten gar keine Ahnung, was das war. Der Buhmann war gefunden: der Computer, der auf der Basis höchster Abstraktion, reiner Mathe­matik und mit irr­witziger Geschwindigkeit über das Schicksal von Unterneh­men, Fi­nanz­märkte und der Welt­wirtschaft zu bestimmen schien. Nicht mehr nach der Leistungs‑ und Er­trags­kraft einzelner Unter­neh­men orien­tierte sich die Börsen­ent­wicklung, son­dern an der Entwick­lung von Indices, in denen zum Beispiel 500 Firmen wie im (Standard & Poor's 500) zusam­men­gefaßt sind.[7]
Doch war der Computer wirklich schuld? Im Februar 1988 stellte die amerikanische Aufsichtsbehörde Commo­dities Futures Trading Com­mis­sion für die US‑Warentermin­börsen fest: nicht die hoch­in­tel­ligente Software war die Ursache, sondern die »ver­änderte Stim­mung« bei den Investoren. Denn nur 20 Pro­zent der Verkäufe am 19. Oktober waren durch program trading ini­tiiert worden, der Rest war nach ganz kon­ven­tionellen Methoden ab­ge­wickelt worden. Der Computer hatte indes den Klima‑Umschwung in einem ungekannten Maße beschleunigt und über den ganzen Erdball verbreitet. Dass es zu einem Wetterwechsel kommen würde, hatte sich schon Monate zuvor an­ge­deu­tet. Doch niemand wußte­, wo der genaue Wendepunkt des Dow Jones lag. Beim Stand von 3700 hatten ihn viele gesehen. Nun war er viel früher gekommen. Und als wäre nur ein einziges Bit umgestellt worden, von Kaufen auf Verkaufen, so hatte der Wechsel funktioniert. Der Stimmungsumschwung wurde in bislang ungekannter Stärke & Schnelligkeit vollstreckt. Vielleicht hätte sich ohne die portfolio insurance der Fall des Dow Jones über mehrere Etappen vollzogen, nicht so schlag­­artig, so radikal. Aber am Ergebnis hätte es nichts geändert. Die Weltwirt­schaft befand sich an einem Wendepunkt.
Weder die Computerwelt ist eine Sphäre für sich, noch die Börse. Selbst wenn sich beide Welten gegenseitig durchdringen, so können sie sich auch dann nicht von der Wirklichkeit abkoppeln. Die Welt der Profis läßt sich nicht abschotten. »Institutionelle Investoren haben nun realisiert, dass sie eine Verantwortung haben für den ganzen Markt«, meinte im Nach­klatsch zum Black Monday der Chairman des American Stock Exchange, Arthur Levitt Jr.. [8]Und die professionelle Spekulation mit Termin­kontrak­ten erfuhr in den folgenden Monaten einen regelrechten Einbruch. Um 40 Pozent sank 1988 der Handel mit Termingeschäften beim S&P-500-Index.[9]
Erst nach dem Crash begann die Wirtschaft mit der schwierigsten Aufgabe, mit dem institutionellen Wandel ‑ und er bildete auch den Hintergrund für die Erneuerung der Computerbranche.
Doch das ist eine ganz andere Geschichte...

Zwischen 1982 und dem Crash von 1987 stieg der Dow Jones um mehr als 200 Prozent, der Output der amerikanischen Wirtschaft aber nur inflationsbereinigt um 20 Prozent.
ENDE DER SERIE



[1] Financial Times, 19.10.1992: »Crashes, big and small«
[2] Die Welt, 16.1.88: »Börse New York überprüft Handel mit Com­pu­tern«
[3] Financial Times, 29.10.87, Ja­mes Buchan, De­bo­rah Har­grea­ves: »A program for di­stress«
[4] Time, 25.1.85, Philip Elmer De­Witt/Thomas McCarroll, Charles Pelton: »The culprits behind the crash?«
[5] Fi­nan­cial Times, 29.10.87, James Buchan, Deborah Har­grea­ves: »A program for di­stress«
[6] Time, 18.1.88, Phillip ElmerDeWitt: »Wild bears on the loose«
[7] Die Welt, 16.88, G. Brüggemann:»Die große Reform ist nicht in Sicht«
[8] Business Week, 18.4.88: »The crash created a `couch potato' market«
[9] The Economist, 25.2.89: »Go for grain«

Freitag, 19. Oktober 2012

DER CRASH VON 1987 (Teil 5)

1985: »Heute sitzen zwischen der Wall Street und Los Angeles Tausende von Händlern vor ihren Computerterminals und orchestrieren die Bewegungen  gewaltiger Geldsummen im Rhythmus der Zahlen, die auf ihren Bildschirmen erscheinen. Unentwegt jagen sie nach kurzfristigen Vorteilen, wobei sie sich ebenso auf ihre Intuition als auch auf Analysen verlassen. Der Händler ist der König in der Kasinogesellschaft.«
Business Week, 16. September 1985

Synchronlauf in die Krise

Normalerweise läuft die Ent­­wicklung an den Börsen nicht synchron. In einem Vergleich von 23 Bör­senplätzen wurde festgestellt, dass die Korrelation durch­schnitt­lich bei 0,222 Punkten liegt, wobei 0 für völlige Unabhängigkeit und 1 für kom­plet­­te Übereinstimmung steht. Im Oktober 1987 schnellte in­des dieser In­­dex auf 0,755 hoch.[1] Der elektronische Marktplatz war zum erstenmal vereint ‑ in Panik. Und die Computer­pro­fis ahnten, dass dies ein bitterer Triumph für sie war.
Auf jeden Fall hatte niemals zuvor die Welt ei­nen Beweis dafür be­kommen, wie effizient Informationen inzwischen um den Erdball roll­ten. Aber glücklich war darüber niemand. »Wenn alle Markt­teil­nehmer gleichzeitig über die gleichen Informationen verfügen, ist zwar völ­­­lige Markttransparenz gegeben«, beobachtete in einer Ana­ly­se der Er­­­eignisse Karl Herbert Schneider‑Gädicke, stellver­tre­ten­der Vor­stands­­­vor­sit­zender der DG‑Bank, »aber es ist bedenklich, wenn An­la­ge­entschei­dun­gen ausschließlich am Bildschirm getroffen werden.«[2] In der Tat ‑ von den Bildschirmen schien der Anstoß für dieses Mas­saker an den Weltbörsen ausgegangen zu sein. Die kollektive Schuld für das Desaster wurde spontan dem pro­gramm­gesteuerten Han­del ange­la­stet. Diese Technik war Anfang der achtziger Jahre ein­­ge­führt wor­­den ‑ und dies war ihr erster Crash. »Man kann mit Men­schen Bör­sen­ge­schäfte machen, aber nicht mit Computern«, klagte in der Wo­che nach dem Crash der Wertpapierspezialist John Lyndon. »Mit den Leu­ten auf dem Parkett kann man verhandeln, aber nicht mit Pro­gram Tra­­ders, die nur auf einen Knopf zu drücken brau­chen, um jede Menge an Aufträgen raus­zu­schleudern.«[3] »Der Computer tat es!« titelte mit klamm­heim­licher Freude die Compu­ter­world, die mit Großrechnern groß geworden war und wie kaum ein anderes Fachblatt der Zunft der IS‑Experten die Stange hielt.[4]
Ja, der Computer tat es. Aber war er wirklich schuld? Tatsache war, dass sie an diesem Tag eine Auftragsflut bewältigen mußten wie es sie zuvor noch nie gegeben hatte. Natürlich waren sie zeitweilig über­fordert gewesen. Unterbrechungen gab es bei fast allen Kompo­nenten des komplexen Börsenhandelssystems. Ein Auftragsabwick­lungs­system, das die Order der Brokerhäuser an das Parkett weitergab, crashte viermal am 19. Oktober.[5] Doch wenn es einen technischen Eng­paß gegeben hatte, dann waren es weniger die Rechner gewesen als die Drucker auf dem Parkett. Sie waren überfordert, als ihre Steue­rungseinheiten auf dem Höhepunkt der Krise seine Maximal-Kapazität von 68 Aufträgen pro Sekunde überschritt und 72 Orders an die Prin­ter verteilte, die höchstens zehn bis 12 Ausdrucke in der Mi­­nute schaff­ten. Das erhöhte Volumen konnten sie nicht mehr pac­ken. Die Folge war, dass die Verkaufsaufträge verspätet und zu Prei­sen auf dem Parkett ausgeführt wurden, die nicht mehr synchron wa­ren mit den Konditionen, zu denen die Orders erteilt wurden. Die Me­chanik lief der Elektronik hoffnungslos hinterher.[6] Dabei war Synchronisierung das A&O des Börsenhandels - vor allem für die sogenannten Pro­gram Traders. Diese ausgefuchsten Experten hatten die Krise durchaus effizient & effektiv ge­ma­nagt ‑ bis etwas geschah, womit Profis nie rechnen: das Unerwartete.

// Teil 1 // Teil 2 // Teil 3 // Teil 4 // Teil 5 //


[1] The Economist, 11.3.89: »Why stockmarkets move together«
[2] Die Welt, 2.1.1988, Inge Adam: »Im Bör­senjahr 1988 beherrscht der Dollar die Kulisse«
[3] Finan­cial Times, 29.10.87, James Buchan/Deborah Hargreaves: »A program for di­stress«
[4] Computerworld, 18.1.1988, Mitch Betts: »The computer did it!«
[5] Time, 8.2.88: »System failure«
[6] Compu­ter­world, 1.2.88, Mitch Betts: »GAO finds NYSE systems guilty in market crash«

Donnerstag, 18. Oktober 2012

DER CRASH VON 1987 (Teil 4)



1987: »Die Börse arbeitet nur noch für sich selbst. Es steht kein echter Boom bei Investitionen dahinter.«
Charles P. Kindleberger, Massachusetts Institute of Technology

The New York SCHOCK Exchange

 
Frankfurt. Montagmorgen, 19. Oktober 1987. In Deutsch­land war alles ruhig. Noch schlief die Wall Street. Doch wer von den Börsianern am Mor­gen seine Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung stu­diert hatte, spürte, dass dies ein Tag der Entscheidung sein würde. »Com­pu­tergesteuerte Verkaufsprogramme haben am Freitag und in den Vortagen den Kurs­ver­lauf gefährlich beein­flußt und können auch wei­ter markttreibend wir­­ken«, schrieb voll böser Ahnungen das Blatt in der Börsenkolumne Brief von der Wall Street. Weiter hieß es da: »Au­tomatismus kann hier zum Teu­fels­werk werden. Panik ist schwer mit Vernunft beizu­kom­men.«[1] Plötzlich schimmerte Angst durch vor dem bislang so perfekt insze­nierten Zusammenspiel zwischen Profis und Computer...
New York. Montagmorgen, 19. Oktober 1987. Während in Deutschland längst Nachmittag war, lasen die Amerikaner be­gierig am Früh­stücks­tisch die neuesten Nachrichten. Um 108,36 Punkte war am Freitag zuvor der Dow Jones gefallen. Damit sei der »Kapitulations­punkt erreicht«, überbrachte das Wall Street Journal eine Botschaft von Dennis Jarrett, Analyst bei der Investmentbank Bear, Stearns & Co.. »Die Hitze wird so stark, dass die Leu­te nicht mehr am Feuer verweilen können.« Seine Befürchtung: an die­­sem Montag würde die Börse mit Verkaufsorders überschwemmt. Eins war klar: ab einem Vo­lumen von 600 bis 700 Millionen Aktien, würde eine »wahre Panik« herrschen, warnte Ned Davis, Chef von Ned Davis Research Inc. in Venice (Florida).[2]
Wenige Stunden später nahm das Drama seinen Lauf. Die New Yorker Börse erlebte den freien Fall des Dow Jones, der in wenigen Stun­den von seiner Position mit 2246 Punkten um 508 Punk­te absackte und schließlich beim Stand von 1738 Punkten er­schöpft ein­rastete.[3] Wäre die Börse noch länger offen ge­wesen, dann hätte Sturz noch tiefer sein können. Dieser Fall um 22,6 Pro­zent war aber auch so schon schlimm genug. Er übertraf sogar den Schwarzen Freitag im Oktober 1929, als der Dow Jones 11,7 Prozent einbüßte. 604 Mil­lio­nen Aktien wur­den ver­kauft. Das war dreimal mehr als der Tages­durch­schnitt ‑ aber es gab wohl keinen, der sich über diese Leistung freute. Niemand lobte deswe­gen die immense Effizienz der Computer, die sich an diesem Tag eine gran­diose Schlacht lieferten.
Denn das Volumen, das an diesem Tag abgewickelt werden mußte, war 37mal höher als am 29. Oktober 1929.[4] Damals waren gerade­mal 16,4 Mil­lionen Ak­tien auf den Markt geworfen worden. Und das war schon eine Rekordleistung gewesen.  Damals, am Schwarzen Freitag, hatte das Volumen im Vergleich zum 3. September 1929, als der Dow Jones seinen Höchststand mar­kierte, um den Faktor 4 über­trof­fen.[5] Im Ver­gleich zu der Wucht des Black Monday war Black Fri­day jedoch allenfalls ein grauer Tag. Am 19. Oktober 1987 legte sich tiefe Finsternis innerhalb von Sekunden über die ganze Welt.
»Mit Compu­ter‑Geschwindigkeit rauschte die Kunde vom US‑Börsen­de­sa­ster [...] um den Erdball und zog alle Börsen mit«, schrieb die Ta­ges­zei­tung Die Welt.[6]
Dabei ver­loren die Anleger in der Woche nach dem Crash rund eine Billion Dollar ‑ die bis dahin wohl größte Geldver­nich­­tung in der Ge­schichte der Börsen. Die Effektivität der Börsianer war dahin: statt Werte zu schaffen, hatten sie nun Vermögen zerstört.
Was besonders erschütterte, war die Perfektion des weltwei­ten Zu­sam­men­spiel der Fi­nanzplätze. So etwas hatte es in der Historie noch nie gegeben. Die Hälfte der Verluste ging zu Lasten der insti­tutionel­len Investoren, die andere Hälfte mußten Privatanleger verdauen, ob­wohl sie zumeist gar keine Chance hatten, in das pro­fessionelle Treiben einzu­grei­fen. Es hatte beide gleichermaßen erwischt. Und niemand auf der Welt konnte dem Crash entkommen. Der Blitz hatte einge­schla­gen und mar­kierte seine Zick­zacklinie durch alle In­dices ‑ seien es nun die, die Aktienkurse zusammenfassen, oder jene, die Bonds be­werten oder Währungen.[7] Zum ersten Mal wurde der Weltöffentlichkeit deut­lich, wie stark die Informationstechnologien die Ereignisse global vernetzt hatten. Und manche fragten sich, ob es wieder 25 Jahre dauern würde (wie beim Oktober‑Crash 1929), bis sich der Dow Jones von einem sol­chen Sturz erholen und den alten Höchststand nehmen würde.[8] Denn dies­mal hing die ganze Welt am Netz.

// Teil 1 // Teil 2 // Teil 3 // Teil 4 // Teil 5 //


[1] Frank­furter All­ge­meine Zeitung, 19.10.87: »Die teuer­ste Mil­liarde der Welt«

[2] Wall Street Journal, 19.10.87, John R. Dorf­man: »Record New York trading volume is considered good sign by some«
[3] Die Zeit, 30.10.87, Bernhard Blohm: »Der pro­grammierte Crash«
[4] Wirt­schafts­woche, 23.10.87: »Massaker an Wall Street«
[5] Wall Street Journal, 19.10.87, John R. Dorfman: »Re­cord New York trading volume is considered good sign by so­me«
[6] Die Welt, 2.1.1988, Inge Adam: »Im Bör­sen­jahr 1988 beherrscht der Dollar die Kulisse«
[7] Financial Ti­mes, 30.3.88: Stefan Wagstyl: »Shaking the kalei­dos­ko­pe«


[8] The Eco­no­mist, 26.3.88: »Spring is sprung, shares is rit, I wonder when the next crash is?«

Mittwoch, 17. Oktober 2012

DER CRASH VON 1987 (Teil 3)



1987: »Wir sehen einen Anstieg der Gier. Wir sehen, dass Menschen Geld schnell und hart hineinwerfen - ohne nachzudenken.«
Thomas Czech, Marktforschung Blunt Ellis & Lowi

Die Umschichtung von Kapital & Arbeit


Vor dem Crash hatte in den USA die Zahl der Merger ein Volumen von 161 Milliarden Dollar erreicht und lag damit fast schon so hoch wie das gesamte Jahr 1986, das mit 173 Mil­liarden Dollar abschloß. Gleichzeitig hielten sich die Unter­neh­men bei Ka­pi­tal­in­ve­stitionen im Inland zu­rück­hielten. Konsum war alles. Es sah so aus, als würde in einem kollektiven Rausch die Drohung verdrängt, dass alles auf einen Zeitbruch hinsteuerte. »Der­zeit sind 25 bis 29 Millionen Menschen in amerikanischen Pro­duk­tionsjobs en­ga­­giert«, orakelte 1982 Raj Reddy, Wissen­schaft­ler an der Car­ne­gie Mel­lon University. »Ich erwarte, dass es im Jahr 2010 we­ni­ger als drei Millionen sein werden.« Eine Prog­no­se, die niemand an der Bör­se ernst­haft anzweifelte. Im Gegenteil, sie sahen sich auf der si­cheren Seite. Unter den Studienabgängern waren Arbeitsplätze in Pro­duk­tions­unternehmen alsbald verpönt. Nur an der Wall Street schienen die Jobs nicht nur sicher zu sein, sie bereiteten auch ko­los­­salen Spaß. Und dafür sorgte der Computer. Er war der beste Freund der Börsia­ner.
Die Informati­sierung feierte grandiose Triumphe ‑ vor allem bei den Fondsmana­gern. Bis dahin hat­ten sie passiv an den Märk­­ten teil­ge­nommen. Sie waren schlafende Riesen, die den Experten der Invest­ment­häuser und Banken ausgeliefert waren. Doch nun hatten sie im Computer ein pro­fessionelles Werkzeug gefun­den, das es ihnen er­laubte, an den vo­la­tilen Kapitalmärkten eben­so mit­zu­­spielen wie die etablierten Bör­sianer. Ihre Fondskollegen, die noch mit Papier und Blei­stift ar­bei­te­ten, hatten sie bereits ge­schlagen. Wer das ihm anver­traute Ver­mö­gen per Computerbefehl von einer Chance zur näch­sten jagte, hatte allein zwischen 1981 und 1985 den Geldeinsatz um 218 Prozent ge­stei­gert, während der Durchschnitt der da­mals 905 Fonds sich mit einer Vermehrung von 91,7 Prozent zufrie­den geben mußte.[1]  Es war klar: wer über Computer verfügte, besaß einen Informationsvorsprung, der konnte den Index schlagen ‑ und sich damit von der Masse abheben. Damit war man nicht nur ef­fi­zient, sondern auch effektiv. Täglich abzulesen, an den steigenden Aktienkursen. Hier wurden Werte geschaffen. Man mußte nur blitzschnell zuschlagen.
Auch die konservativen Pensionsfonds sahen ihre Chance. In den USA verwalteten sie 1981 etwa 20 Prozent des Aktienkapitals, 1987 hat­ten sie sich 30 Prozent gesichert ‑ und auch sie hingen nun am Com­pu­ter. Die Informationstechnologie hatte die Händler des Geldes und der Vermögen mit sei­ner enor­men Leistungsfähigkeit zu neuen Helden gemacht. Anstatt in ihre Betriebe zu investieren, spielten die Kon­zerne an den Kapitalmärkten. Sie starteten Takeovers, kauf­ten Ak­tien zurück oder inszenierten Leveraged Buy‑Outs. Und die Börse gab ihnen in allem, was sie taten, auch noch recht. Jeder bestätigte je­den in seinem Tun. Immer raf­fi­niertere Methoden und Modelle wur­den ausgetüftelt, um mit Hilfe von Computer­ aus Geld immer schnel­ler noch mehr Geld zu machen. Die Bör­se hatte alle in­sti­tu­tionellen Akteure vereinigt. Und damit waren sie in eine gran­diose Falle getappt: Gefangen in einem weltweiten Netz der Finanz­märkte senkten sie »ihre Aufmerksamkeit gegenüber den eigentlichen Wünschen der Kunden. Sie waren nur noch damit beschäftigt, sich selbst so zu positionieren, dass sie von den niemals enden wollenden Schwankungen des Marktes pro­­fitierten«, staunte im September 1985 Business Week.[2] In diesen Schwankungen lagen die Chancen. Aber die Fixierung auf das schnelle Geschäft in einem globalen Umfeld zeigte 1986 bereits erste Crash‑Symptome: den Profis gelang es immer weniger den Index zu schlagen. Die Un­ter­schiede zwischen den Teilnehmern schwanden. Die Gleichförmigkeit griff. Der Index trieb nach oben, aber um von ihm zu profitieren, musste immer mehr Geld eingesetzt werden. Davon gab`s genug. Kleinanleger wollten nun ebenfalls von der Haus­se profitieren‑ und fielen in denselben Rausch.
Ohne die Hilfe ihrer Rechner konn­ten die Broker gar nicht das viele Ge­schäft ab­wickeln. Aber für die Investmentbanken wurde es immer we­niger lukrativ. Die Personalkosten liefen ihnen davon, die Pro­fite sanken. In Deutschland hingegen, wo die Automatisierung der Börsen noch völlig unterentwickelt war, wurden private Anleger sogar ab­gewimmelt. Wer vor zehn Jahren noch bis zehn Uhr seine Aufträge nicht erteilt hatte, kam gar nicht zum Zuge.[3] In New York hingegen herrschte action. Ver­gessen war längst die War­nung von solchen Auguren wie Reddy: »Nie­mand, der heute an der Macht ist, ver­steht, was ge­schieht, oder er­faßt, was kommen wird.« So hatte er zu Beginn der Hausse gesagt.[4] Aber es mußte doch auch keiner verstehen, was geschah. Es funktionierte doch! Vier Jahre später meinte 1986 Walter Wriston, bis 1984 Chairman der besonders innovationsfreudigen Citi­corp.: »Wir sind nun an dem Punkt, wo es keinen Weg mehr zurück gibt. Die 200 Millionen Aktien, die täglich an der New Yorker Börse gehandelt werden, können von Men­schen ebenso wenig gemei­stert wer­den wie die Vermittlung von Te­lefongesprächen. Es gibt da­zu einfach zu wenig Menschen auf der Welt«. Das war natürlich Wasser auf die Mühlen der Compu­ter­pro­fis. Sie waren es gewesen, die diese hocheffi­ziente In­fra­struk­tur auf­ge­baut hatten. Ohne die Dinos im Hintergrund waren die Desk­tops macht­los.
 Mochten die Börsenprofis noch soviel Geschäft heran­ho­len, ohne die intelligente Infrastruktur würden sie keinen einzigen Deal ab­wickeln können. »In nicht weniger als einer Dekade«, so rekapi­tu­lierte das Wirtschaftsmagazin The Economist im Ju­li 1990 das zu­rück­liegende Jahrzehnt, »verwandelte die Macht der Com­puter die Na­tur des Kapitals. In unerwarteter Weise veränderten sie die Art und Weise, in der die Nutzer der Technologie mitein­an­der kon­­kur­rie­ren.«[5]
63 Monate währte der Börsenboom zwischen 1924 und dem Crash im Oktober 1929. Beinahe hätten die Computer in den 80er Jahren diesen Rekord eingestellt. Es fehlte 1 Monat.


// Teil 1 // Teil 2 // Teil 3 // Teil 4 // Teil 5 //

[1] The Economist, 21.3.87: »Computer challenge the stock­market gu­rus«
[2] Busi­ness Week, 16.9.85, Anthony Bianco: »Playing with fire«
[3] Frankfurter Allge­mei­ne Zeitung, 25.2.86: »Die Papierflut erschwert den Börsen­handel«
[4] Bu­siness Week, 8.3.82: »Artificial Intelli­gen­ce«
[5] The Economist, 21.7.1990, Dominic Ziegler: »In search of the crock gold ‑ a survey of international capital mar­kets«