»Ich weiß ganz genau, dass uns in diesem Augenblick das gesamte Universum zuhört.«Jean Giraudoux, französischer Schriftsteller (1882-1944)
12. Die Formel S
Die Anfänge des Cyberspace gehen auf die sechziger Jahre zurück. Damals machte man sich am Massachusetts Institute of Technology (MIT) erstmals Gedanken über ein Netz, das selbst einen atomaren Angriff überleben könnte. Im November 1969 war es dann soweit. Das ARPANET, Vorläufer der Internets, ging an den Start. Es war ein Militärnetz, ein Wissenschaftsnetz – vor allem aber eine Spielwiese für neue Werkzeuge.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich überall in den
hochindustrialisierten Ländern eine neue Elite etabliert, die sich voll und
ganz den neuen Technologien verschrieben hatte. Immerhin war es dieser Elite
gelungen, den ersten Menschen zum Mond zu schicken und wieder zurück zu holen.
Dank massiven Einsatzes von Geld, Intelligenz und Computern. Die USA bildeten
die technologische Spitze. Sie prägten auch den neuen Menschentyp, für den
alles machbar schien.
Die Techniker bildeten das Herzstück der New Economy von
damals. Sie ersetzten Erfahrung durch Technologie. Sie sahen sich als die
Herren der neuen Schöpfung, des Computers. Das Elektronenhirn, wie die Boulevardpresse
den Computer nannte, war die wahre Zukunftsmaschine. Es produzierte mit
maschineller Intelligenz die Zukunft in Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und
Gesellschaft. Der Computer war die Zukunft. Und die Computerleute sahen sich
als die Hohenpriester dieser Zukunft. Rigoros räumten die Emporkömmlinge, die
einer Tätigkeit ausübten, für die es kaum eine geregelte Ausbildung gab, in den
Unternehmen mit der Vergangenheit auf. Wissen und Erfahrung zählte nur noch als
Software. Damit ließ sich jedes Unternehmen strategisch neu aufstellen. Und
Strategieberatung war das nächste Zukunftsfeld, mit dem die Menschen anfingen,
ihre Herkunft zu überwinden. Zur Technologie kam die Methode. Sie ersetzte das
Wissen. Die Frage nach dem Was wurde ersetzt durch die Frage nach dem Wie, die
Frage nach der Strategie.
Die 1963 gegründete Boston Consulting Group hatte als erste
das Thema Strategieberatung popularisiert. Sie war noch völlig ausgerichtet auf
Unternehmen des Massenproduktionszeitalters. Ob die Berater nun mit Lern- und
Erfahrungskurven jonglierten oder das Spielfeld, den Markt und seine
Wettbewerber, in Quadranten aufteilten, immer ging es darum, die Betriebe
strategisch zu positionieren – in Richtung Zukunft. Um im Beratungsgeschäft zu
reüssieren, musste man nicht sonderlich viel Erfahrung oder gar Branchenwissen
mitbringen. Was gebraucht wurde, war ein Stab von Interviewern, die alle
notwendigen Informationen aus den Mitarbeitern herausquetschten. Die Daten
wurden dann analytisch ausgewertet und entsprechend dem Tableau in Kurven und
Matrizen zusammengestellt. Wenn dann alles nicht so kam, wie gedacht, dann lag
es nicht an der Analyse, es lag an der Umsetzung. Das Unternehmen hatte ein
Implementierungsproblem.[1] Anders formuliert: Es
fehlte an Wissen und Erfahrung.
In den achtziger Jahren tauchten dann Thomas J. Peters und
Robert H. Waterman auf und erzählten, was sie bei der »Search of Execellence«
herausgefunden hatten. Erstklassige Firmen zeichneten sich dadurch aus, dass
sie die sieben S beherrschten: Das erste S galt der Staff, der Belegschaft. Das
zweite S hob den Skill hervor, das Wissen. Dem Style, dem Managementstil, war das dritte S
gewidmet. Hinzu kam das S wie Systems. Damit war das Kommunikationsmuster gemeint.
Die Structure oder die Unternehmensorganisation bildete das fünfte S. Mit dem
sechsten S adressierte man die Shared Values, die gemeinsamen Werte. Die
Krönung bildete selbstverständlich die Strategy, das siebte S.
Das Zusammenspiel dieser Erfolgsfaktoren innerhalb und
außerhalb des Unternehmens entschied darüber, wie gut ein Betrieb sich
behauptete. Auf jeden Fall wurden den Unternehmen immer wieder Kästchen zur
Verfügung gestellt, mit denen sie ihre eigene Komplexität meistern und mildern
konnten. So sollte die Zukunft die Herkunft in den Griff bekommen. Es kam stets
nur auf die richtigen Werkzeuge und Methoden an. Seltsam war nur, dass nach
Erscheinen dieses Buches ausgerechnet jene Unternehmen reihum versagten, die
Peters und Waterman zuvor in ihrem Bestseller ausgelobt hatten. Irgendetwas
stimmte nicht. Die Herkunft bestimmte immer noch die Zukunft.
Hatte die breite Bevölkerung anfangs die Segnungen der
Maschinen begrüßt, so schlugen mit steigendem Rationalisierungserfolg die
Erwartungen in Ängste um. Aus dem Elektronenhirn, das auf Knopfdruck alles
liefert, was das Herz begehrt, wurde der Jobkiller, der die Grundlagen des
industriellen Zeitalters unterminierte: den Arbeitsplatz.
Nun stellte sich zunehmend die Frage, wer künftig die
weitere Entwicklung bestimmen würde. Herkunft oder Zukunft? Gesellschaft oder
Technologie? Doch bei der Suche nach einer Antwort musste zuerst einmal die
Perspektive zurecht gerückt werden – ganz im Sinne des amerikanischen
Historikers Thomas Parke Hughes, der 1987 bemerkte: »Man sollte nicht die Auswirkungen
der Technik auf die Gesellschaft untersuchen, sondern den Einfluss der
Gesellschaft auf die Technik, weil die Technologie ein kulturelles Artefakt und
ein Ausdruck gesellschaftlicher Werte ist.«
Der Schwerkraft dieser gesellschaftlichen Werte, des
kollektiven Wissens und der Lebenserfahrung schien sich dann in den neunziger
Jahren die New Economy entziehen zu wollen. Ihre Mitglieder, die Neue Elite,
ersetzte in ihrem Ungestüm nicht nur Wissen und Erfahrung durch Technologie und
Netze, sie wollte gar den Sturz der Materie vollenden, das Industriezeitalter
endgültig begraben. Alles sollte nur noch virtuell gesteuert werden im Zeichen
des allgegenwärtigen »e«. Doch seit ihrem steilen Höhenflug ist die New Economy
nun am Boden der Tatsachen zerschellt. Niemand war da, der Humpty-Dumpty wieder
zusammenfügte.
Was war falsch gelaufen? Die Antwort ist einfach: Wissen,
Erfahrung und Wertesysteme lassen sich nicht einfach durch Technologie
ersetzen. Nicht durch Analysieren, Strukturieren, Kategorisieren, durch Formeln
oder sonstige Methoden. Diese bilden nur den Werkzeugkasten. Wissen, Erfahrung,
Werte – das sind die Gegenstände, die es zu bearbeiten gilt. Beide Seiten sind
aufeinander angewiesen.
Das Problem ist: Werkzeuge und Methoden absorbieren so viel
Kraft und Zeit, dass für den eigentlich zu bearbeitenden Gegenstand kaum
Aufmerksamkeit übrigbleibt. Schlimmer noch: Da die Werkzeuge sich ständig
ändern oder in rascher Abfolge gegenseitig substituieren, entwerten sie sogar
das mühsam erworbene Werkzeugwissen. So werden nicht nur das Wissen und die
Erfahrung anderer, sondern auch der eigene Wissensschatz in die Vergangenheit
gestoßen. Damit zerstört sich die »kreative Zerstörung« (Schumpeter) permanent
selbst. Die Lösung aus dem Dilemma: Wissen und Erfahrung sind keine Kategorien
mehr, die in die Vergangenheit gehören und unsere Herkunft beschreiben. Sie
sind Teil der Zukunft, vielleicht sogar deren entscheidender.
Nur so bewahrheitet sich Vlussers Aussage. Wir sind
tatsächlich von Zukunft umgeben, geradezu umzingelt. Das gilt besonders für
jene Nationen, die mit einem völlig neuen Phänomen konfrontiert werden: mit dem
Alterungsprozess. Die Zukunft ist immer mehr unsere Herkunft. Und wir sollten
dabei sehen, dass auf jedem wichtigen Wissensgebiet heute mehr Experten leben
als vor uns je gelebt haben. Die meisten von ihnen sind nicht nur Spezialisten
auf einem Gebiet, sondern auf mehreren. Wir erleben uns selbst als Vielheit.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen