Die Neue Gesellschaft und ihre Feinde
10. Zukunft ist Herkunft
»Wie oft in der Weltgeschichte hatten wir - wie jetzt - so viele Revolutionen, die sich alle gleichzeitig ereignen? Wie oft geschah es, dass so viele Menschen versuchten, ihre politischen und ökonomischen Strukturen sowie ihre kulturellen Normen zu ändern – und zwar simultan?«Allen Weinstein, Center of Democracy in Washington, 1991[1]
Die gesamte Geschichte der Menschheit liegt im nächsten
Satz: »Herkunft ist Zukunft.« So formulierte es einst kurz und knapp der
deutsche Philosoph Martin Heidegger. Die Lebensverhältnisse, in die wir hineingeboren
werden, lenken unser Schicksal. Das war immer so - bei den Urmenschen ebenso
wie bei den Menschen der Moderne.
2.01 Der Zukunftsschock
Was seit Menschengedenken gilt, wird nun im 21. Jahrhundert
seine totale Umkehrung erfahren: »Zukunft ist Herkunft.« Das ist der wahre
Zukunftsschock. Und den müssen wir zuerst einmal verdauen.
Denn die Forderungen sind ungeheuerlich: Wir steuern uns
selbst. Wir geben uns Ziele. Wir definieren unsere Zukunft. Wir geben ihr einen
Ort, auf den wir zusteuern. Zugleich disponieren wir unsere Lebensverhältnisse
so, dass wir dieses Ziel auch erreichen. In Gedankenschnelle. All das ist immer
weniger Wunsch und immer mehr Wirklichkeit. 1995 schrieb das Wirtschaftsmagazin
Fortune: »Die neue Technologie besitzt das Potenzial, die menschlichen
Verhaltensmuster zu ändern, die Art, wie Menschen miteinander umgehen – und
unsere Vorstellungen von dem, was es heißt, ein Mensch zu sein.«[2] Kurzum: Wir definieren uns
neu.
Plötzlich erfasst uns die Schwellenangst. Wir zögern.
Irgendjemand muss uns in diese Zukunft hineinstoßen.
Den ersten Stoß haben wir bereits hinter uns. Dafür stand
1989 der Fall der Mauer und der Zusammenbruch des Ostblocks. Ein großer Teil
der Menschheit ließ sich halb aus Verzweiflung, halb aus Hoffnung auf ein
gigantisches Abenteuer ein: auf Zukunft pur.
Millionen von Menschen brachen auf, um ihre Herkunft zu
verlassen, ihre Lebensverhältnisse, ihre Traditionen, ihre Gewohnheiten. Sie
betraten das 21. Jahrhundert.
Viele mussten jedoch bald feststellen, dass sie fortan ohne
Orientierung, ohne Landkarten waren. Es war ein Aufbruch ins Ungewisse. Vor
derselben Situation steht heute nicht nur der Osten, sondern auch der Westen.
»Die Informationstechnologie wird die Macht besitzen, das umzukehren, was als
eine Abweichung in der Geschichte der Menschen gewesen ist: das industrielle
Modell der Gesellschaft«, dozierte 1995 Fortune. »Während die Menschen der
Agrargesellschaften jahrtausendelang im Rhythmus der Sonne das Land rund um ihr
Haus bearbeiteten, schuf das Industriezeitalter die Uhr und die Trennung von
Heim und Arbeitsplatz.« Doch nun sorgen die Netze dafür, dass wir weder an
irgendeine Zeit noch an irgendeinen Ort gebunden sind. Die physische Präsenz
wird ersetzt durch die immateriellen Formen der Kommunikation. Das ist ein
Schock. Wir geben uns selbst Raum und Zeit. Wir bestimmen Herkunft und Zukunft.
Doch ohne Landkarten werden wir weder unseren Standort noch
unser Ziel bestimmen können. Wir brauchen Landkarten der Zukunft. Sie zu zeichnen,
das ist die Aufgabe von Menschen wie Alvin Toffler, dem meistzitierten
Zukunftsforscher der Welt. »Wir, die wir die Zukunft erkunden, gleichen jenen
Kartographen früherer Zeiten«, meinte er 1970 in seinem Bestseller »Der
Zukunftsschock«. Hier führte er an anderer Stelle aus: »Alle Neuerungen
vergrößern die Lücke zwischen dem, was wir glauben, und dem, was wirklich ist,
zwischen unseren Vorstellungen und der Realität, die sie spiegeln soll.« Gerät
diese Lücke zu groß, »droht uns eine Psychose oder gar der Tod«.[3] Unsere Angst, unser Mangel
an Phantasie, unser Kleinmut – das ist unser größter Feind. Wir treffen ihn
täglich. In uns. Wir müssen ihn besiegen.
Wir stehen an einem Scheideweg.
- Entweder wenden wir uns der Vergangenheit zu und kehren
gar zurück zu einer Stammesgenossenschaft,
- oder aber wir stellen uns dem Neuen, dem Ungewissen.
Eigentlich gibt es seit dem 11. September den Weg zurück
nicht mehr. Mit der Welt des Osama Bin Laden wollen wir nichts zu tun haben.
Wir sind dazu verurteilt, Neuland zu betreten.
»Wir schaffen eine neue Gesellschaft. Keine veränderte
Gesellschaft, keine überlebensgroße Version unserer gegenwärtigen Gesellschaft,
sondern eine neue Gesellschaft. Diese Tatsache hat unser Bewusstsein noch nicht
genügend geprägt. Aber wenn wir sie nicht verstehen, werden wir dem
Zukunftsschock erliegen.« So Toffler 1970.
Eine Generation
weiter hätte er dieselben Sätze nochmals schreiben können. Sogar viele
seiner Analysen und Annahmen könnte er fast unverändert wiederholen. Zum
Beispiel: »In den kommenden Jahrzehnten werden alle möglichen Fortschritte uns
raketengleich aus der Vergangenheit in eine neue Ära, Gesellschaft befördern.
Und diese Gesellschaft wird sich nicht etwa konsolidieren, sondern sie wird
ihrerseits fortwährend von Neuerungen erschüttert werden. Dem Individuum, das
in dieser Zeit leben wird und ein Teil der Zukunft sein möchte, gewährt die
superindustrielle Revolution keine Unterbrechung des Wechsels. Sie bietet keine
Rückkehr zur gewohnten Vergangenheit. Sie gewährt nur die hochexplosive
Mischung aus Vergänglichkeit und Neuerung.«[4]
Wie aber sollen wir uns zurechtfinden in dieser
»hochexplosiven Mischung«? Eine Generation nach dem »Zukunftsschock« ist diese
Frage so aktuell wie nie zuvor.
Einerseits leben wir auf derselben Erde wie vor 1970.
Andererseits hat sich die Zahl der Menschen nahezu verdoppelt. Der Platz, der
rein rechnerisch jedem Individuum zugestanden wird, hat sich entsprechend vermindert.
Und in den nächsten Jahrzehnten wird er noch weiter schrumpfen. Trotzdem
verlangen (und bekommen) wir pro Kopf immer mehr Wohnfläche. Schon jetzt
besitzen wir zehn Quadratmeter mehr als vor 30 oder 40 Jahren.
Wir leben länger. Das stellt die Alterpyramide auf den Kopf.
Bis 2050 wird sich z.B. in Deutschland der Anteil der über 65jährigen von 30
auf nahezu 60 Prozent verdoppeln. Welche Auswirkungen hat dies auf den
Wohlstand?
In den hochindustrialisieren Ländern war nach einer Untersuchung
der OECD zwischen 1990 und 2000 der Wohlstand zwischen 20 Prozent (Deutschland)
und 40 Prozent (USA) gestiegen. Zugleich aber zeigten Untersuchungen, dass das
Gefälle zwischen den armen und reichen Nationen größer geworden war.[5] Würde es dabei bleiben?
Was war mit China, Indien und den anderen Schwellenländern, die zwischen allein
in den letzten zehn Jahren einen gewaltigen Aufschwung nahmen? Was ist, wenn
die bisherige Reichtumslücke kleiner wird? Was hat dies für Konsequenzen für
unseren Energiebedarf?
Zwischen 2000 und 2020 wird nach einer Einschätzung der
International Energy Agency der Energieverbrauch - umgerechnet auf den Rohstoff
Öl als Rechnungseinheit - um rund sechzig Prozent auf 9117 Millionen
Tonnen ansteigen. Werden wir diesen
Mehrbedarf durch alternative Energien befriedigen können? Und zu welchem Preis?
Die Zahlenreihen ließen sich beliebig fortsetzen. Sie alle
sind Teil der »hochexplosiven Mischung« aus Herkunft und Zukunft. Was aber
können wir tun, um die Zeitbombe zu entschärfen?
Eigentlich müssten wir zu den Sternen aufbrechen. Die Erde
wird uns zu eng. Ihre Ressourcen scheinen bald aufgebraucht. Doch wird es wohl
noch Jahrzehnte benötigen, bis wir uns tatsächlich dauerhaft im Weltraum
niederlassen werden – auf künstlichen oder natürlichen Planeten. Vorerst müssen
wir noch hier bleiben.
»Auf der Erde ist es unmöglich, mehr als 20.000 Kilometer
von seinem Geburtsort entfernt zu sein«, heißt es bei Douglas Adams, dem leider
2001 allzu früh verstorbenen Kult- und Ulkautor der Science-Fiction.[6] Maximal 20.000 Kilometer
Abstand von der Herkunft – wie lange
reicht das noch aus? Unser Gefühl sagt uns irgendwie: Nicht mehr lange.
Wir brauchen einen neuen
Raum, einen unendlich großen Raum. Wir brauchen einen neuen Zeit-Raum. Und wenn
es ihn nicht gibt, dann müssen wir ihn eben erfinden. Denn darin waren wir
schon immer groß. TEIL 1 // TEIL 2 // TEIL 3 // TEIL 4 // TEIL 5 // TEIL 6 // TEIL 7 // TEIL 8 // TEIL 9 // TEIL 10 // TEIL 11 // TEIL 12 //
[1] Time, June 10, 1991, David Aikman: »Tracing the
Traumas of Transition«
[2] Fortune, March 20, 1995, Andrew Kupfer: »Alone
together«
[3] Alvin
Toffler, Bern-München-Wien 1970: »Der Zukunftsschock«,
Seite 143
[4] Alvin
Toffler, Bern-München-Wien 1970: »Der
Zukunftsschock«, Seite 171
[5] The Economist, April 28, 2001, Robert Wade (London
Business School of Economics: »Losers and winners«
[6]
Douglas Adams, ISBN 3-453-20961, 2001: »Per Anhalter durch die Galaxis«
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