Montag, 8. Oktober 2012

Der Kampf der Jahrtausende (Teil 10)

Die Neue Gesellschaft und ihre Feinde

10. Zukunft ist Herkunft



»Wie oft in der Weltgeschichte hatten wir - wie jetzt - so viele Revolutionen, die sich alle gleichzeitig ereignen? Wie oft geschah es, dass so viele Menschen versuchten, ihre politischen und ökonomischen Strukturen sowie ihre kulturellen Normen zu ändern – und zwar simultan?«
Allen Weinstein, Center of Democracy in Washington, 1991[1]


Die gesamte Geschichte der Menschheit liegt im nächsten Satz: »Herkunft ist Zukunft.« So formulierte es einst kurz und knapp der deutsche Philosoph Martin Heidegger. Die Lebensverhältnisse, in die wir hineingeboren werden, lenken unser Schicksal. Das war immer so - bei den Urmenschen ebenso wie bei den Menschen der Moderne.

2.01 Der Zukunftsschock

Was seit Menschengedenken gilt, wird nun im 21. Jahrhundert seine totale Umkehrung erfahren: »Zukunft ist Herkunft.« Das ist der wahre Zukunftsschock. Und den müssen wir zuerst einmal verdauen.
Denn die Forderungen sind ungeheuerlich: Wir steuern uns selbst. Wir geben uns Ziele. Wir definieren unsere Zukunft. Wir geben ihr einen Ort, auf den wir zusteuern. Zugleich disponieren wir unsere Lebensverhältnisse so, dass wir dieses Ziel auch erreichen. In Gedankenschnelle. All das ist immer weniger Wunsch und immer mehr Wirklichkeit. 1995 schrieb das Wirtschaftsmagazin Fortune: »Die neue Technologie besitzt das Potenzial, die menschlichen Verhaltensmuster zu ändern, die Art, wie Menschen miteinander umgehen – und unsere Vorstellungen von dem, was es heißt, ein Mensch zu sein.«[2] Kurzum: Wir definieren uns neu.
Plötzlich erfasst uns die Schwellenangst. Wir zögern. Irgendjemand muss uns in diese Zukunft hineinstoßen.
Den ersten Stoß haben wir bereits hinter uns. Dafür stand 1989 der Fall der Mauer und der Zusammenbruch des Ostblocks. Ein großer Teil der Menschheit ließ sich halb aus Verzweiflung, halb aus Hoffnung auf ein gigantisches Abenteuer ein: auf Zukunft pur.
Millionen von Menschen brachen auf, um ihre Herkunft zu verlassen, ihre Lebensverhältnisse, ihre Traditionen, ihre Gewohnheiten. Sie betraten das 21. Jahrhundert.
Viele mussten jedoch bald feststellen, dass sie fortan ohne Orientierung, ohne Landkarten waren. Es war ein Aufbruch ins Ungewisse. Vor derselben Situation steht heute nicht nur der Osten, sondern auch der Westen. »Die Informationstechnologie wird die Macht besitzen, das umzukehren, was als eine Abweichung in der Geschichte der Menschen gewesen ist: das industrielle Modell der Gesellschaft«, dozierte 1995 Fortune. »Während die Menschen der Agrargesellschaften jahrtausendelang im Rhythmus der Sonne das Land rund um ihr Haus bearbeiteten, schuf das Industriezeitalter die Uhr und die Trennung von Heim und Arbeitsplatz.« Doch nun sorgen die Netze dafür, dass wir weder an irgendeine Zeit noch an irgendeinen Ort gebunden sind. Die physische Präsenz wird ersetzt durch die immateriellen Formen der Kommunikation. Das ist ein Schock. Wir geben uns selbst Raum und Zeit. Wir bestimmen Herkunft und Zukunft.
Doch ohne Landkarten werden wir weder unseren Standort noch unser Ziel bestimmen können. Wir brauchen Landkarten der Zukunft. Sie zu zeichnen, das ist die Aufgabe von Menschen wie Alvin Toffler, dem meistzitierten Zukunftsforscher der Welt. »Wir, die wir die Zukunft erkunden, gleichen jenen Kartographen früherer Zeiten«, meinte er 1970 in seinem Bestseller »Der Zukunftsschock«. Hier führte er an anderer Stelle aus: »Alle Neuerungen vergrößern die Lücke zwischen dem, was wir glauben, und dem, was wirklich ist, zwischen unseren Vorstellungen und der Realität, die sie spiegeln soll.« Gerät diese Lücke zu groß, »droht uns eine Psychose oder gar der Tod«.[3] Unsere Angst, unser Mangel an Phantasie, unser Kleinmut – das ist unser größter Feind. Wir treffen ihn täglich. In uns. Wir müssen ihn besiegen.
Wir stehen an einem Scheideweg.
- Entweder wenden wir uns der Vergangenheit zu und kehren gar zurück zu einer Stammesgenossenschaft,
- oder aber wir stellen uns dem Neuen, dem Ungewissen.
Eigentlich gibt es seit dem 11. September den Weg zurück nicht mehr. Mit der Welt des Osama Bin Laden wollen wir nichts zu tun haben. Wir sind dazu verurteilt, Neuland zu betreten.
»Wir schaffen eine neue Gesellschaft. Keine veränderte Gesellschaft, keine überlebensgroße Version unserer gegenwärtigen Gesellschaft, sondern eine neue Gesellschaft. Diese Tatsache hat unser Bewusstsein noch nicht genügend geprägt. Aber wenn wir sie nicht verstehen, werden wir dem Zukunftsschock erliegen.« So Toffler 1970.
Eine Generation  weiter hätte er dieselben Sätze nochmals schreiben können. Sogar viele seiner Analysen und Annahmen könnte er fast unverändert wiederholen. Zum Beispiel: »In den kommenden Jahrzehnten werden alle möglichen Fortschritte uns raketengleich aus der Vergangenheit in eine neue Ära, Gesellschaft befördern. Und diese Gesellschaft wird sich nicht etwa konsolidieren, sondern sie wird ihrerseits fortwährend von Neuerungen erschüttert werden. Dem Individuum, das in dieser Zeit leben wird und ein Teil der Zukunft sein möchte, gewährt die superindustrielle Revolution keine Unterbrechung des Wechsels. Sie bietet keine Rückkehr zur gewohnten Vergangenheit. Sie gewährt nur die hochexplosive Mischung aus Vergänglichkeit und Neuerung.«[4]
Wie aber sollen wir uns zurechtfinden in dieser »hochexplosiven Mischung«? Eine Generation nach dem »Zukunftsschock« ist diese Frage so aktuell wie nie zuvor.
Einerseits leben wir auf derselben Erde wie vor 1970. Andererseits hat sich die Zahl der Menschen nahezu verdoppelt. Der Platz, der rein rechnerisch jedem Individuum zugestanden wird, hat sich entsprechend vermindert. Und in den nächsten Jahrzehnten wird er noch weiter schrumpfen. Trotzdem verlangen (und bekommen) wir pro Kopf immer mehr Wohnfläche. Schon jetzt besitzen wir zehn Quadratmeter mehr als vor 30 oder 40 Jahren.
Wir leben länger. Das stellt die Alterpyramide auf den Kopf. Bis 2050 wird sich z.B. in Deutschland der Anteil der über 65jährigen von 30 auf nahezu 60 Prozent verdoppeln. Welche Auswirkungen hat dies auf den Wohlstand?
In den hochindustrialisieren Ländern war nach einer Untersuchung der OECD zwischen 1990 und 2000 der Wohlstand zwischen 20 Prozent (Deutschland) und 40 Prozent (USA) gestiegen. Zugleich aber zeigten Untersuchungen, dass das Gefälle zwischen den armen und reichen Nationen größer geworden war.[5] Würde es dabei bleiben? Was war mit China, Indien und den anderen Schwellenländern, die zwischen allein in den letzten zehn Jahren einen gewaltigen Aufschwung nahmen? Was ist, wenn die bisherige Reichtumslücke kleiner wird? Was hat dies für Konsequenzen für unseren Energiebedarf?
Zwischen 2000 und 2020 wird nach einer Einschätzung der International Energy Agency der Energieverbrauch - umgerechnet auf den Rohstoff Öl als Rechnungseinheit - um rund sechzig Prozent auf 9117 Millionen Tonnen  ansteigen. Werden wir diesen Mehrbedarf durch alternative Energien befriedigen können? Und zu welchem Preis?
Die Zahlenreihen ließen sich beliebig fortsetzen. Sie alle sind Teil der »hochexplosiven Mischung« aus Herkunft und Zukunft. Was aber können wir tun, um die Zeitbombe zu entschärfen?
Eigentlich müssten wir zu den Sternen aufbrechen. Die Erde wird uns zu eng. Ihre Ressourcen scheinen bald aufgebraucht. Doch wird es wohl noch Jahrzehnte benötigen, bis wir uns tatsächlich dauerhaft im Weltraum niederlassen werden – auf künstlichen oder natürlichen Planeten. Vorerst müssen wir noch hier bleiben.
»Auf der Erde ist es unmöglich, mehr als 20.000 Kilometer von seinem Geburtsort entfernt zu sein«, heißt es bei Douglas Adams, dem leider 2001 allzu früh verstorbenen Kult- und Ulkautor der Science-Fiction.[6] Maximal 20.000 Kilometer Abstand von der Herkunft – wie lange  reicht das noch aus? Unser Gefühl sagt uns irgendwie: Nicht mehr lange.
Wir brauchen einen neuen Raum, einen unendlich großen Raum. Wir brauchen einen neuen Zeit-Raum. Und wenn es ihn nicht gibt, dann müssen wir ihn eben erfinden. Denn darin waren wir schon immer groß. 

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[1] Time, June 10, 1991, David Aikman: »Tracing the Traumas of Transition«
[2] Fortune, March 20, 1995, Andrew Kupfer: »Alone together«
[3] Alvin Toffler,  Bern-München-Wien 1970: »Der Zukunftsschock«, Seite 143
[4] Alvin Toffler,  Bern-München-Wien 1970: »Der Zukunftsschock«, Seite 171
[5] The Economist, April 28, 2001, Robert Wade (London Business School of Economics: »Losers and winners«      
[6] Douglas Adams, ISBN 3-453-20961, 2001: »Per Anhalter durch die Galaxis«

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