»Ein Londoner Bürger könnte, während er seinen Morgentee im Bett zu sich nimmt, am Telefon die verschiedensten Produkte aus der ganzen Welt bestellen und zwar in jeder von ihm gewünschten Menge. Selbstverständlich kann er erwarten, dass ihm die Ware frühmorgens direkt vor die Haustür geliefert wird.«John Maynard Keynes, Wirtschaftswissenschaftler, in Economic Consequences of the Peace, 1919 [1]
7. Das Ende des Narrenparadieses
Zuerst einmal war an diesem 11.September die Übergangszeit
zwischen zwei Jahrhunderten zu Ende gegangen. Mit dem Fall der Mauer am 9.
November 1989 hatte das 21.Jahrhundert begonnen, aber erst mit dem 11.September
2001 war das 20.Jahrhundert zu Ende gegangen.
In der Zeit dazwischen, in diesen zwölf Jahren zwischen
George Bush und George W. Bush hatten die Vereinigten Staaten nach Aussage des
amerikanischen Wirtschaftsmagazins Fortune in einer »Narrenzeit« gelebt.[2] Von einem »Narrenparadies«
sprach gar das britische Magazin The Economist.[3] Man hatte in vollen Zügen
die Friedensdividende genossen, die das Ende des Kalten Krieges den USA
versprochen und auch gebracht hatte.[4]
In der Tat – nach dem Ende des Kalten Krieges schien alles
ganz einfach zu werden. Und die New Economy, die sich mit rasender Geschwindigkeit
über die Weltwirtschaft ausgedehnt hatte, suggerierte, dass künftig alles noch
komfortabler werden würde. Ein Leben in Saus und Braus. Die Netze würden uns
mit allem versorgen, was wir brauchten – und zwar in Echtzeit.
Eine Euphorie wie in den Golden Twenties hatte sich überall
breitgemacht. Nicht nur in den USA. Das erwies sich nun als Trugschluss. Das
Gewitterleuchten an den Technologie-Börsen hatte dies bereits angekündigt. Vier
Billionen Dollar Papiervermögen waren seit dem Höchststand der Börsen im März
2000 allein an der Nasdaq vernichtet worden. Doch niemand hatte das ganze
Ausmaß der Selbsttäuschung so richtig erfasst.
Der Begriff »Komplexität«
Um zu verstehen, was sich tatsächlich seit 1989 ereignet
hat, muss man wieder bei Flusser nachlesen. Er unterscheidet zwischen
struktureller und funktionaler Komplexität. Ein Fernseher ist seiner Definition
nach strukturell sehr komplex, aber funktional äußerst einfach. Selbst kleine
Kinder können damit umgehen. Ein Schachspiel hingegen mit seinen wenigen Regeln
ist strukturell sehr einfach, aber funktional sehr komplex. Das zeigte schon
der spektakuläre Kampf zwischen Kasparow und Deep Blue.
Strukturell komplex, funktional einfach war auch die
Schlusszeit des 20. Jahrhunderts. Die staatlichen Systeme funktionierten. Das
war der natürliche und selbstverständliche Anspruch jedes Bürgers. Von der Wiege
bis zur Bahre kümmerte sich die Öffentliche Hand um alles, vor allem natürlich
um sich selbst. Im Schnitt hat sich seit dem ersten Weltkrieg der Staatsanteil
am Bruttoinlandsprodukt von neun auf 44 Prozent nahezu verfünffacht. [5] Während die Wirtschaft den
Sturz der Materie vollführte, zog der Staat immer mehr Materie an sich.
Dass er sich dabei selbst vollkommen überfrachtete, die
Aufgabenlast im Widerstreit der Interessensgruppen kaum noch schultern konnte,
das ließ sich im Alltag leicht verdrängen. Das waren die Themen, aus denen am Sonntagabend
die Talkrunden gemacht wurden. Klar war nur: Die Schulden musste die nächste
Generation schultern.
Der Funktionsschock
Funktional komplex, strukturell einfach – so lässt sich
schon heute das neue Jahrhundert charakterisieren. Die Struktur der Next Economy
ist ganz einfach. Alles ist vernetzt und steuert sich selbst. Dafür steht das
Internet mit seiner ganzen Entwicklungsgeschichte. Denn dieses Netz hat sich –
mit ein bisschen Hilfe von Uncle Sam – letztlich selbst gebaut.
Um sich jedoch in den Netzen zu behaupten, um die
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, um gleichsam sein eigenes Netz zu spinnen,
muss man ein überwältigendes Repertoire an Optionen im Auge behalten – und zwar
auf der Zeitachse. Es geht nicht mehr darum, in Räumen zu denken, sondern in
Zeit. »Früher war eine große Landmasse die Bedingung für ein maximales
Pro-Kopf-Einkommen«, behauptete 1997 William Knoke, Präsident der Harvard
Capital Group. »Das war der Hintergedanke, als Deutschland einen großen Teil
Europas besetzte oder als Japan im zweiten Weltkrieg in China einmarschierte.«
Damals ging es um den Zugang zu Arbeitskraft, Rohstoffen und Märkten. »Aber in
der globalen Wirtschaft ist der Zugang zu den Rohstoffen möglich, ohne ihn zu
besitzen.« [6] Hinzu kommt, dass nun
Wissen der wichtigste Rohstoff ist. Der Wert des Wissens ist aber eine Funktion
der Zeit, nicht des Raumes. Dessen geographischen Strukturen verlieren mehr und
mehr an Bedeutung. Wissen ist auf unendlich vielfältige Weise einsetzbar.
Viele Unternehmen spüren jetzt diesen Funktionsschock. Der
Tod etlicher Dot.coms hat hierin seine Ursache. Angelockt durch die strukturelle
Einfachheit der Netze mit ihren äußerst niedrigen Zutrittsschranken zu den
Fleischtöpfen der Zukunft wurden sie von der funktionalen Vielfalt schlichtweg
überwältigt. Die »superconnecting technologies«, denen sie ihre Existenz zu
verdanken hatten, verlangten ihnen eine derartige Fülle an funktionalen
Aufgaben ab, dass sie scheitern mussten.
Die Betriebe, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts geboren
wurden, stecken in einer kaum geringeren Klemme. Ihr Problem ist, dass sie ihre
strukturelle Komplexität – ihr Denken in Räumen – noch nicht wirklich überwunden
haben. Was man sich aufgebaut hat, verleitet nun mal zur Bequemlichkeit. Es
brachte aber auch hohe Standort-Kosten. So sind viele Reflexe in den
Entscheidungsetagen mancher Betriebe noch darauf ausgerichtet, den Besitzstand
zu wahren und hemmungslos staatliche Hilfen einzufordern. Man verschiebt die
Probleme in die Zukunft, setzt auf Restauration.
Das geht schief. Selbst wenn die Attacken der dot.coms und anderer
Aggressoren nicht ohne Geschick und mit viel Ranküne abgewehrt worden sind, entgeht
die Old Economy nicht ihrem Schicksal. Denn sie befindet sich in der Defensive.
Sie denkt nicht strategisch – oder besser – funktional. Sie denkt strukturell.
Und das dauert zu lange, ist viel zu träge.
Zehn bis 20 Schritte vorauszudenken, ohne sich dabei in
Kausalketten zu verstricken, das ist eine Kunst, die nur wenige beherrschen.
Wer dieses Spiel beherrscht, macht in der Old Economy nicht unbedingt die
entsprechende Karriere, um seine Kunst auch beweisen zu können. Er muss
letztlich wie Jeff Bezos, Michael Dell, Hasso Plattner, Tom Siebel oder auch
Bill Gates sein eigenes Unternehmen gründen. Auch dann ist der Erfolg nicht
garantiert.
Zwölf Jahre lang hatten wir das Nebeneinander von
Bequemlichkeit und Einfachheit. Das war das Narrenparadies. Seit dem 11.
September ist alles anders. Nichts ist mehr bequem. Nichts ist mehr einfach.
TEIL 1 // TEIL 2 // TEIL 3 // TEIL 4 // TEIL 5 // TEIL 6 // TEIL 7 // TEIL 8 // TEIL 9 // TEIL 10 // TEIL 11 //
[1] Newsweek, November 10, 1997, Michael Elliott:
»The Truth About Miracles«
[2] Fortune, October 1, 2001, Bill Powell: »Battered
but unbroken«
[3] The Economist, September 15, 2001: »The day the world
changed«
[4] Business Week, December 11, 1989,
Karen Pennar, Michael J. Mandel, Dave Griffiths, Keith H. Hammnonds, Todd
Vogel, Eric Schine: »The Peace Economy«
[5] The Economist, July 13, 1999, Brian Beedham: »The road
to 2050 – A survey of the new geopolitics«
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