»Nach dem Zerfall des Sowjetimperiums und dem Ende einer gesellschaftspolitisch begriffenen Polarisierung der Welt werden Konflikte zunehmend unter kulturellen Gesichtspunkten definiert – als der Zusammenprall von Völkern und Kulturen, die in ihrem Selbstverständnis durch den traditionellen Gegensatz der Weltreligionen geprägt sind.«Jürgen Habermas, deutscher Philosoph, 1995[1]
8. Die Megatrends
Der 11. September markiert nicht nur den Wendepunkt zwischen
zwei Jahrhunderten, sondern auch zwei Jahrtausenden. Zwei große, hochkomplexe
Megatrends, die seit zehn Jahrhunderten die Weltgeschichte durchzogen, prallten an diesem 11. September aufeinander.
Trend 1: Die Sakularisierung
Im Westen hatte sich in den letzten zehn Jahrhunderten der
»Wandel von religiösen zu mehr materialistischen Kulturen vollzogen«. So
schrieb vor 30 Jahren, 1972, der Zukunftsforscher Herman Kahn in seinem Buch
»Angriff auf die Zukunft«. Den größten Wendepunkt dahin lieferte vor einem
halben Jahrhundert die Reformation, mit der der Glaube privatisiert wurde. Er
wurde zu einer Frage des persönlichen Gewissens. Staat und Wirtschaft
emanzipierten sich. Die Verweltlichung begann. Mit dem Westfälischen Frieden
setzte sich das Prinzip der staatlichen Souveränität durch. Die industrielle
Revolution entfaltete die überwältigenden Kräfte der Naturwissenschaften.
Schließlich wurde das Gottesgnadentum durch die Demokratie abgelöst. Vor allem
aber übernahm nach dem Ende der Sowjetunion der Markt mehr und mehr die Rolle
des Koordinators. Die letzte große ideologische Auseinandersetzung zwischen
Plan- und Marktwirtschaft, dieser Kampf der Systeme, war 1989 entschieden.
Im Zuge dieses Trends synchronisierte sich die Welt in den
neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu einer globalen, friktionslosen, vernetzten
Wirtschaft. Alle Grenzen wurden durch das Internet untertunnelt. Alles schien
plötzlich machbar.
Erinnern wir uns: Keine zehn Jahre ist es her, dass das
Internet noch als antikapitalistisch von Männern wie Bill Gates geächtet worden
war. Plötzlich aber war es der Weg in die Zukunft. Ohne auch nur zu Stolpern
nahmen wir die letzte, große Zeithürde, das Jahr-2000-Problem. Alle Maschinen
blieben im Zeittakt. Das Netz hielt. Wir hatten die Komplexität im Griff. Die
Zukunft konnte kommen. Sie hatte freie Bahn. Wir waren bereit. Ein Triumphzug
der Technologie und der Effizienz. Vordergründig hatte das materialistische,
kapitalistische System auf breiter Front gesiegt. Es würde nun alles an sich
reißen.
Das kann nicht gut gehen. Das weiß jeder.
Trend 2: Ideationelle Kulturen
Der andere Megatrend wird bestimmt von den »ideationellen
Kulturen, die von jenseitigen Idealen motiviert sind.«[2] So Kahn. Dafür steht vor
allem der Islam. Dessen Schrift, der Koran, wurde nicht wie die Bibel von weltlichen
Autoren verfasst. Der Koran wurde von Gott selbst vor bald 14 Jahrhunderten dem
Propheten Mohammed diktiert. Wie Jesus verstand sich Mohammed als ein »Mann,
der Gottes Wille verkörpere«. So der britische Historiker Arnold Toynbee. Doch
im Gegensatz zu dem Begründer des Christentums, der sich nicht als ein
politischer Rebell verstand und seine Landsleute gegen die Römer mobilisierte
(ein ohnehin sinnloses Unterfangen), verstand der mitunter sehr rabiat vorgehende
Mohammed »die Verknüpfung der Religion mit Krieg und Politik.« (Toynbee) [3] Der Glaube war das höchste
Prinzip. Er liefert die Superstruktur über allem. Dabei war er durchaus
tolerant. Bernard Lewis, ein renommierter Historiker und exzellenter Kenner des
Islam, berichtet, dass in der Geschichte religiöse Minderheiten unter muslimischer
Herrschaft weitaus besser behandelt wurden als unter christlichen Regierungen.[4]
Doch 1992 warnte M.J.
Akbar, indischer Schriftsteller und Berater der Regierung seines Landes: »Die
nächste Konfrontation geht definitiv von der muslimischen Welt aus.« Mohammed
El-Jabry, ein marokkanischer Gelehrter, diagnostizierte im selben Jahr: »Wir
Muslime leben heute in der kulturellen Epoche des 14. Jahrhunderts. Wir
brauchen einen Descartes, einen Roger Bacon, einen Ibn Chaldun**, einen Karl Popper.« Vor 500 Jahren
ächteten ottomanische Sultane den Einsatz des Buchdrucks. 235 Jahre lang war
Gutenberg verpönt. Saddam Hussein verbat in den siebziger und achtziger Jahren
die Nutzung von Schreibmaschinen.[5] Ein Glaube, der auf Gottes
Wort basierte, untersagte sich der Instrumente, die dessen Verbreitung doch
eigentlich beschleunigen sollten.
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[1] Die
Zeit, 8.12.1995, Jürgen Habermas: »Wahrheit und Wahrhaftigkeit«
[2]
Hermann Kahn, München 1972: »Angriff auf die Zukunft«
[3]
Arnold Toynbee, Düsseldorf 1979: »Menschheit und Mutter Erde«
[4] Newsweek, October 15, 2001, Fareed Zakaria: »The
Roots of Rage«
** Ibn
Chaldun war ein islamischer Historiker des 13. Jahrhunderts
[5] Newsweek, April 2, 2001, Christopher Dickey:
»Nibbling at the net«
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