Mittwoch, 3. Oktober 2012

Der Kampf der Jahrtausende (Teil 5)



»Aus der Vergangenheit kann jeder lernen. Heute kommt es darauf an, aus der Zukunft zu lernen.«

Herman Kahn (1922-1983), Zukunftsforscher[1]

5. Die Befreiung der Zeit

Ein halbes Jahrtausend ist es her, da erfand der Nürnberger Uhrenmacher Peter Henlein die sogenannte Sack- oder Taschenuhr. Es war eine fulminante Erfindung, auf die die Welt seit 1330 gewartet hatte. Damals hatten Mönche das noch heute gültige Stundenmaß ausgetüftelt.[2]  Seit dem Jahr 1502 waren nicht nur die frommen Brüder, sondern jeder Mensch, der sich ein solches Wunderwerk leisten konnte, Herr seiner eigenen Zeit. So möchte man glauben.
Doch es kam anders. Mit der industriellen Revolution, mit der Mechanisierung und Automatisierung der Arbeit wurde die Uhr zum Maß aller Leistung. Mensch und Maschine mussten ihr gleichermaßen gehorchen. Selbst die Freizeit wurde genau geregelt. Die Uhr stand an der Spitze aller Hierarchien. Es herrschte Weltzeit.
Erst mit dem Aufmarsch der Computer, ihrer permanenten Gegenwart und Verfügbarkeit im Namen von »24/7«*, fing der Mensch allmählich an, sich seine Zeit wieder zurückzuerobern. Die Gleitzeit kam, und die Heimarbeit (Home Office) schuf sich zumindest schon mal tageweise ihren Platz. Schließlich befreite uns das Handy sogar von jeglicher Bindung an eine physische Präsenz. Wir können überall und nirgends sein, sind aber trotzdem jederzeit verfügbar. So wie wir es wollen. Selbst die alte, biblische Einteilung in Wochentage verschob sich. Der Sonntag war nicht mehr heilig. Die Zeit individualisierte sich. Damit verändert sich auch unsere Vorstellung vom Raum.

Das neue Zeitmodell

Dieser Trend ist noch lange nicht zu Ende. Er ist das Ergebnis der Globalisierung und Informatisierung. Wenn die Welt rund um die Uhr geöffnet ist, dann kann sich jeder nach seinen eigenen Vorstellungen in ihr einrichten. Die Frage lautet nicht mehr, wo man ist, sondern wann. Wie aber kommen wir mit dieser Zeit zurecht? Das ist weniger eine Aufgabe des Arbeitsrechts oder der theologischen Auslegung. Wir brauchen grundsätzlich eine neue Vorstellung von Zeit.
Flusser meint, dass wir bislang einem falschen Zeitmodell gefolgt sind. In ihm fließt die Zeit aus der Vergangenheit der Zukunft entgegen. Dabei durchläuft sie einen »punktartigen Zustand«: die Gegenwart. Alles ist linear gerichtet. Die Zeit rennt vorwärts. Seit 15 Milliarden Jahren vor Jesus. Seit zweitausend Jahren nach Christi Geburt.
Gegen diese Zeitrechnung stellt der Philosoph sein Zeitmodell. Für Flusser ist klar: Die Zeit kommt nicht aus der Vergangenheit. Die Zeit kommt aus der Zukunft.
Der Mensch aber geht der Zeit entgegen. Er strebt in die Zukunft. Das Ergebnis ist eine Kollision, ein permanenter Zusammenstoß von Mensch und Zukunft. Nichts ist linear. Die Zeit zerspringt in alle Richtungen. Sie verliert ihren kausalen Zusammenhalt aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. »Wir müssen statt dessen die Gegenwart aus der Zukunft erklären«, behauptet Flusser. Nur so werden wir wieder Herren der Zeit.
Was aber ist Zukunft? Physiker und Chemiker dringen zum Beispiel in Zeiteinheiten vor, die derart winzig sind, dass wir gar kein Zeitgefühl dafür haben.
So finden chemische Reaktionen in Bruchteilen von Sekunden statt – in Femtosekunden. Das sind 1000stel von Billionstel Sekunden. Würde man die Existenz des Universums seit dem Urknall vor etwa 15 Milliarden Jahren durch diese Zahl teilen, dann entspräche dies gerade einmal der Dauer von fünf Minuten.[3]
Aus diesen ultrakurzen Zeitspannen gewinnen die Wissenschaftler unentwegt neue Erkenntnisse, die in den ersten hundert Jahren unseres neuen Jahrtausends nicht nur unser Weltbild immer wieder revolutionieren werden, sondern aus denen völlig neue Güter entstehen. Es sind Produkte, die heute nur in unserer Phantasie existieren. Aber eins scheint dabei sicher zu sein: Es werden Produkte sein, die völlig körperlos sind, nur noch virtuell existieren, oder so winzig klein sein, dass sie weder von unseren Augen, noch von unserem Tastsinn wahrgenommen werden können.

Die Welt des Unsichtbaren

Wir betreten die Welt des Unsichtbaren. In ihr hilft nur noch Anschaulichkeit, die von Computern gewonnen wird. Auf Hawaii, dessen höchster Berg, der Mauna Kea, ein 600 Millionen Euro teures Observatorium schmückt, ist den Astronomen der Zutritt zu den Geräten verboten. Allein ihre Körperhitze würde genügen, um die Genauigkeit der hochklimatisierten Objektive zu stören. Die Bilder aus dem All dürfen nur von Computern betrachtet werden, die sie dann an die Wissenschaftler übertragen.[4] Am liebsten wäre es den Sternenforschern, wenn ihre Geräte gleichsam hinter dem Mond, auf seiner dunklen Seite, installiert würden. Denn dort wären sie nicht nur den Nebel los, mit dem unsere Erdatmosphäre den Blick in die Ferne erschwert, sondern die Radioteleskope müssten nicht mehr gegen den Elektrosmog ankämpfen, den unsere elektronischen Medien und Kommunikationsgeräte erzeugen.
Um die Vergangenheit unseres Universums zu verstehen, müssen wir in femtoskopischen Zeiteinheiten denken. So stoßen die Astrophysiker bei ihren Untersuchungen des Urknalls, eine Theorie, die 1925 zum ersten Mal von dem belgischen Mönch George Le Maitre entwickelt wurde, immer weiter in die Dimensionen der Billionstel vor. Berühmt wurde übrigens diese Theorie erst, als ihr erbitterter Gegner, der britische Astronom Fred Hoyle, ihr 1948 den Namen gab: Big Bang.[5] Obwohl er die Theorie damit lächerlich machen wollte, sorgte er dafür, dass sie für jedermann vorstellbar wurde. Für uns Normalsterbliche genau so wie für die Wissenschaftler.

Ein Ende mit 117 Nullen

Wenn die Sternenforscher in die andere Richtung schauen, in die Zukunft des Universums, dann schlägt ihr Zeitsystem in das genaue Gegenteil um. In einer Billion Jahre werden alle Sterne sich in weiße Zwerge verwandelt haben, Dies ist dann der Anfang vom Ende der Welt. In 1000 Billionen Jahren werden die Gestirne zu schwarzen Zwergen mutiert sein. Was danach kommt, lässt sich nur noch in Zehnerpotenzen ausdrücken. Auf jeden Fall meinte bereits 1974 der berühmte Sternenforscher Stephen Hawking, dass sich das Universum in 10117 Jahren (eine zehn mit 117 Nullen) irgendwie im letzten Todeskampf befinden werde.[6]
Unsere Zeitvorstellungen liegen irgendwo zwischen 1000stel von Billionstel Sekunden und 1000 Billionen Jahren. Zischen unendlich groß und unendlich klein. Der schnellste Chip der Welt schaltete im Jahr 2002 rund 100 Milliarden Mal pro Sekunde.[7] Sechs Jahre später, 2008, taktete der schnellste Chip bereits mit 410 Gigahertz, also viermal schneller. (Siehe HIER) Und auf der Suche nach weiteren Rekorden ist ein Ende noch lange nicht in Sicht.
Jeder Augenblick davon ist Zukunft. Wir haben also jede Menge davon. Im Großen wie im Kleinen. Wir können sie bloß nicht sehen. Nur in unserer Phantasie, mit Hilfe unserer Anschauungskraft.
Permanent, auf allen Stufen unseres Daseins, kollidieren wir mit der Zeit. Die neue Herausforderung besteht darin, dass wir alles, was wir tun, eigentlich nur noch aus der Zukunft beurteilen können. Wir müssen gleichsam zwanzig, fünfzig, hundert Jahre vorwärts springen, um dann die Entwicklungsströme retrospektiv zu beurteilen. Wir müssen in Zukunft denken – in weite Zukunft, weiter als es die Kirchenbauer des Mittelalters taten, weiter als die Lebenszeit von mehreren Generationen. Und wir müssen das zum Beispiel deshalb tun, um unsere Probleme von heute zu lösen.  

Die 10 000-Jahre-Uhr

Rund 150.000 Tonnen radioaktiven Abfall wartet weltweit auf seine Entsorgung. Jährlich wächst das Volumen um zehn Prozent. Aber noch gibt es kein Endlager für all den atomaren Dreck. Wir haben ein technisches Problem, kein politisches. Es geht hier nicht um grüne Politik oder andere Denkschablonen. Wir brauchen ganz einfach nur Container, die in den nächsten 10.000 Jahren alle denkbaren Katastrophen überleben können. »Je mehr wir lernen vorauszusagen, was in den nächsten Zehntausenden von Jahren geschehen wird, desto mehr realisieren wir, wie wenig wir verstanden haben«, meint Matthew Bonn, Nuklearexperte an der Harvard University.[8] Wenn wir also heute noch keine Lösung haben, dann sollten wir wenigstens anfangen, mit der Zukunft zu kommunizieren. 
Vielleicht hilft uns dabei ein anderer Uhrenmacher: das Computergenie Daniel Hillis. Mit seiner Connecting Machine, die irgendwann eine Million Mikroprozessoren zu einer dem menschlichen Gehirn ähnlichen Struktur verbinden sollte, sorgte Hillis in den achtziger Jahren für Furore. Es war eine verrückte Idee. Doch 1999 überraschte er die Welt mit einer weitaus seltsameren Vision. Er stellte den Prototyp einer Uhr vor, die 10.000 Jahre lang in die Zukunft hineinticken soll. Das Uhrwerk ist im Londoner Science Museum ausgestellt.
Inzwischen unterstützt die von kalifornischen Millionären finanzierte Long Now Foundation sein Äonen umspannendes Opus. Diese Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, Projekte zu begleiten, die eine Perspektive von zehn Jahrtausenden haben. (Mehr über die Long-Now-Projekte erfahren Sie HIER)
Um zu dokumentieren, welche Zeitdimensionen sich die Stiftung dabei selbst gibt, kaufte sie kurzerhand in Nevada einen Berg, der als Fundstätte aus prähistorischer Zeit gilt. Hier wird die Millennium-Maschine installiert. Hillis exaktes Uhrwerk ist übrigens so konstruiert, dass ihre Technik jederzeit von den Ingenieuren der Zukunft verstanden werden kann. Sie arbeitet zwar digital, aber ihre Technik basiert auf reiner Mechanik. Wer nämlich so weit in die Zukunft denkt, der muss weiter denken als Silizium. Um das Kunstwerk zu komplettieren, will Hillis sein Uhrwerk mit einer Rosetta-Disc schmücken, die einen Text enthält, der in 1000 Sprachen verfasst ist.[9] Und wann immer sich ein Mensch der Uhr nähert, wird ihr Glockenwerk eine Melodie spielen, die noch nie ein Mensch gehört hat und nach ihm nie wieder ein Mensch hören wird. Die Melodie ist einzigartig und einmalig.
Das Projekt Zukunft hat begonnen. Aber irgendwie haben wir das Gefühl, dass wir schon ziemlich spät dran sind.

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[1] Die Welt, February 26, 2002; »Motto des Tages«
[2] Time, December 26, 1983: »Of Pigeons and Concubines«
* 24 Stunden an 7 Tagen
[3] The Economist, March 15, 1997: »The quadrillionth quadrille«
[4] The Economist, September 8, 2001: »Silent running«
[5] The Economist, September 1, 2001: »Sir Fred Hoyle«
[6] The Economist, November 1, 1986: »Into the encircling gloom forever«
[7] Wall Street Journal, February 26, 2002, William M. Bulkeley: »IBM Is Set to Unveil New Chip Said to Be the World’s Fastest«
[8] Newsweek, April 23, 2001, Stefan Theil, William Ide, Antonia Francis: »The Wasteland«
[9] The Economist, March 24, 2001: »Rethinking machines«

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