»Der Ursprung von Raum und Zeit bleibt ein Rätsel.«
Hartmann Römer, Physiker, Universität Freiburg[1]
14. Die neue Elite
Die erfolgreichsten Orte im Cyberspace sind die, die sich zu
selbststeuernden Communities entwickelt haben. Dafür steht zum Beispiel die
Geschichte von Ebay, diesem virtuellen, übrigens stets profitablen Flohmarkt im
Internet, in dem sich Sammler aus aller Welt mit den ausgefallensten Hobbys
treffen. Ebay hat dabei nichts anderes getan, als sich von Anfang an um den
Kunden herum zu organisieren. Jeder Mensch ist hier ein Markt. Bei Second Life mit
seinen fünf Millionen virtuellen Einwohnern geht dieser Ansatz sogar noch
weiter: Jeder Mensch ist hier eine ganze Weltgeschichte. Und mit diesem emotionalen
Ansatz – vielleicht sogar allein damit – band diese Website die Phantasie der
Menschen an sich. So formierte sich im Netz die Neue Gesellschaft, eine Gesellschaft,
in der die Wünsche genau so profan sind wie in der sogenannten wirklichen Welt.
Mit einem Unterschied: Diese Wünsche sind leichter erfüllbar. Von diesem
Easy-Going versucht wiederum die Werbewirtschaft zu profitieren, die heute mit
ihren Anzeigen das WWW finanziert und zu Konsum in der weitaus härteren, realen
Welt animieren möchte.
Aber die neue Leichtigkeit des Seins ist letztlich das Alleinstellungsmerkmal
des Internets und seiner Welten. Leichtigkeit – das war das Prinzip, nach dem
zum Beispiel Napster funktionierte. Bei dieser legendären Musikbörse trafen
sich auf dem Höhepunkt ihrer Web-Präsenz 70 Millionen Menschen aus der ganzen
Welt, Menschen, die ihr Lebensgefühl durch ihre Musik definierten. Jeder konnte
hier seine Musik ganz individuell auf sich allein zuschneiden. Und er konnte
sie mit anderen teilen. Die Musikverlage stöhnten. Sie klagten. Und sie
gewannen. Gegen Napster. Aber auch gegen ihre Kunden, gegen die Neue
Gesellschaft. Letztlich sogar gegen sich selbst.
Denn die Medienschaffenden sind mehr denn je darauf
angewiesen, dass der Cyberspace wächst, immer mehr Menschen sich dort
versammeln und mit ihren Clicks das Geschäft ankurbeln. »Als Napster seine
Dienste einstellen musste, verschwand auch die Nachfrage nach Breitbandverkabelung«,
erklärte Anfang 2002 Robert Murdoch, Gründer des Medien-Imperiums News Corp.
Natürlich
stehen wir erst am Anfang. Im Land der Zukunft, wie der Cyberspace nicht ohne
Pathos genannt wird, ist jeder Mensch eine Ortsmarke. Er ist seine Zukunft. Er
ist eine Zukunft, die er selbst gewählt hat und mit anderen teilen möchte. Er
zeichnet seine eigene Landkarten. Sie bestehen aus lauter Verbindungslinien zu
anderen. Es sind dies die Links. Ja, seine Zukunft teilt er nicht nur mit
anderen, sondern er kann die Zukunft sogar spalten, in dem er sich selbst
teilt, in viele Individuen. Im Netz kann er die Gestalt annehmen, die er gerne
sein möchte. Und er kann sie wechseln, wann und so oft er will. Das stellt hohe
Ansprüche – so hoch, dass sie nach Meinung der Soziologen nur von einer Elite
wahrgenommen werden können. Doch Facebook eröffnete einer Milliarde Menschen
auf der Welt die Perspektive, Elite zu sein - eine Massenelite.
Die industrielle Revolution spaltete die Zeit des Menschen
in Arbeitszeit und Freizeit, wies ihm unterschiedlichen Rollen zu wie die des
Arbeitnehmers oder des Konsumenten. Er musste mitunter als Arbeitnehmer Dinge
tun, die er als Konsument ablehnte.
Der Preis war die Vermassung, der Verlust der eigenen
Identität. Die Zusammenführung der unterschiedlichen Rollen zu einer eigenen,
selbstbestimmten Identität war allein das Privileg der Oberschicht. Mit dem
Cyberspace drehen sich die Verhältnisse genau um. Das Streben nach
Selbstverwirklichung ist ein Merkmal der unteren Schichten. Ihre Mitglieder
verweigern sich dem, was nicht mit ihrem Ich vereinbar ist. Sie sehen sich
ganzheitlich.
Die neue Elite hingegen hat keine Probleme damit, mehrere
Ichs zuzulassen, auch wenn sie sich eigentlich gegenseitig ausschließen. Als
Aktionär fordert dieser Typus völlige Transparenz von einem Unternehmen. Als
Manager oder Experte würde er am liebsten alles tun, um diese Transparenz zu
unterbinden. Als Konsument verlangt er maximale Leistung, als Anbieter
maximalen Preis. Er verhält sich stets professionell, effizient – entsprechend
dem jeweiligen Rollenethos.
Der Cyberspace favorisiert den Typus der Neuen Elite, sowie
die Gutenberg-Galaxis eher der alten Elite diente. In ihr ging es um eine
einzige, gemeinsame Zukunft, die von großen Institutionen widerspruchsfrei
gesteuert werden sollte. Der Cyberspace hingegen lässt viele Zukünfte zu – und
übernimmt damit die Herrschaft. Diese jedoch besteht aus lauter Widersprüchen.
Deren Auflösung ist einfach nicht effizient, bindet zuviel Kraft und verhindert
Dynamik.
Mit dem Cyberspace entsteht nun eine neue, sekundäre Wirklichkeit,
die in zunehmenden Maße die träge, weil physische, die primäre Wirklichkeit beobachtet
und steuert – wie die Wetter- und Navigations-Satelliten. Alles ist effizient.
Wer diesem Prinzip nicht huldigt oder sich ihm widersetzt, wird ausgemustert.
Er ist von gestern. Er wird abgeschaltet.
»Die nächste Gesellschaft wird eine Wissensgesellschaft
sein«, sagte einst der Granddaddy der Management-Beratung Peter F. Drucker. Der
Wissensarbeiter des 21. Jahrhunderts unterscheidet sich vom Industriearbeiter
des 20. Jahrhunderts dadurch, dass er nicht mehr angewiesen ist auf große
Unternehmen und große Organisationen. Das gilt für die Schaffung von
Arbeitsplätzen in Staat und Wirtschaft, für die Geldversorgung, für das
Gesundheitswesen, für den Bildungssektor, für die Altersversorgung, für alle
Institutionen, die uns im Laufe des vergangenen Jahrhunderts zu groß geraten
sind. Zu groß, um die Aufgaben noch effizient und effektiv erfüllen zu können,
für die sie einmal geschaffen wurden. Vor allem in einem Punkt versagen diese
Institutionen mit ziemlicher Regelmäßigkeit: In der Nutzung des Wissens.
Die Pisa-Studien belegen dies ebenso wie die
Vermittlungsergebnisse der Arbeitsämter. Alle großen, bahnbrechenden
Erfindungen wurden von Individuen erbracht – und je weniger Geld sie hatten,
desto innovativer waren sie. Selbst der brutale Sturz der Dot.coms im Jahr 2001
ist ein Beispiel dafür. Die Kreativität und Dynamik der frühen Jahre war in dem
Augenblick zu Ende, als zu viel und zu großes Geld floss – vor allem von Seiten
der institutionellen Anleger.
»Herkunft ist Zukunft« - im Namen dieses Paradigmas
entstanden im 20. Jahrhundert die großen Institutionen. Sie versuchten dagegen
regulierend einzugreifen. Lange Zeit – bis in die achtziger Jahre hinein –
schien ihnen diese schwere Aufgabe auch zu gelingen. Sie gaben der Herkunft
eine Zukunft.
Doch für den intellektuellen Umschlag, für die Umdrehung
dieses Satzes stehen sie nicht. Dazu binden sie einfach zu viel Masse. »Zukunft
ist Herkunft« – das ist eine leichte Aufgabe, wie geschaffen für das Individuum,
das nun mal seine Suppe(n) selbst auslöffeln möchte.
ENDE
TEIL 1 // TEIL 2 // TEIL 3 // TEIL 4 // TEIL 5 // TEIL 6 // TEIL 7 // TEIL 8 // TEIL 9 // TEIL 10 // TEIL 11 // TEIL 12 // TEIL 13 // TEIL 14 //
ENDE
TEIL 1 // TEIL 2 // TEIL 3 // TEIL 4 // TEIL 5 // TEIL 6 // TEIL 7 // TEIL 8 // TEIL 9 // TEIL 10 // TEIL 11 // TEIL 12 // TEIL 13 // TEIL 14 //
[1] Universitas, December 1992,
Hartmann Rämer: »Atome, Teilchen, Teilbarkeit – Zum Paradox von Ausgedehntheit
und Teilbarkeit«
3 Kommentare:
»Der Ursprung von Raum und Zeit bleibt ein Rätsel.«
Gott?
Das ich das noch erleben darf:
Raimund und die Schaffung, die Nutzung und noch viel mehr ungs in einem Artikel :-)
Es war wohl schon seeeeehhhhr spät.
Nur mit der Selbstauslöffelung hat uns der Autor am Ende dann doch noch verschont :-)
Und noch sehr früh für den Leser... ;-)
Kommentar veröffentlichen