»Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Extremismus abflaut, dann gibt es wieder einen Ausbruch, wie neulich. Sicher ist nur, dass 9/11 der Moment war, an dem diese kleine Sache, die meine private Geschichte war, zu unser aller Geschichte geworden ist.«Salman Rushdie, Schriftsteller in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung[1]
9. Das Millennium der Missverständnisse
Während sich die christlichen Religionen in den letzten
Jahrhunderten als ein Gegenüber der säkularisierten und technisierten Welt
definierten, versuchten mächtige Strömungen im Islam immer wieder das gesamte
politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben dem Koran widerspruchsfrei
unterzuordnen.
Trotzdem divergierte der Islam in unterschiedliche Ausprägungen.
Kein Wunder: Der Koran selbst steckt voller Widersprüche. Jeder kann aus ihm –
ähnlich wie aus der Bibel – herauslesen, was er will. Vor allem aber, so meint
der Militärhistoriker Martin von Creveld (Hewbrew University in Jerusalem, ist
»der Islam eine Stammesreligion par excellence«, der das Leben der Menschen
untereinander innerhalb einer Volksgruppe zu regeln sucht. Dazu habe der Islam
»einen komplexen und religiösen Überbau« errichtet.[2]
Dieses hochkomplexe System organisierte und
institutionalisierte sich rund um Gottes Wort. Aber ein einheitlicher islamisch
geprägter politischer Block bildete sich nicht daraus.[3] Deshalb rätselte die Welt
umso mehr, wie es zu dem Desaster vom 11. September 2001 kommen konnte. Hatte
der Westen, angeführt von den USA, nicht im Kosovo den Moslems geholfen, als
sie von Slobodan Milosevics heftigst bedroht wurden?
Richtig. Niemand bestreitet dies. Doch nach Meinung von
Major Ehsan ul-Haq, einem früheren Militär in der pakistanischen Armee und
Kommandeur im Jihad in Kaschmir, gibt es zwei Weltordnungen, die im heftigen
Widerstreit zueinander stehen: die Weltordnung der Amerikaner, die in ihrer
letzten Konsequenz auf einer Demokratisierung der Länder zielt, und die des
Koran. Ehsan ul-Haq: »Die ganze Welt gehört Allah, und dessen Gesetze müssen
auf dem ganzen Globus angewandt werden.«[4]
Der Schriftsteller und Historiker Amin Maalouf warnte 1993,
dass sich im Islam vor allem die arabische Welt im Angesicht des hochentwickelten
Westens als zunehmend marginalisiert empfindet. »Im Allgemeinen verstehen sich
diese beiden Welten heute nicht besser. Selbst in den letzten 1000 Jahren hat
es keinen großen Fortschritt gegeben.« Und das erzeugt auf Dauer selbst bei
denen, die eigentlich jeglicher Art von Terror ablehnend gegenüber stehen »eine
gewisse Toleranz für politische Gewalt und zwar auch deshalb, weil viele Araber
keine andere Ausdrucksform haben.«[5]
Organisation und Technologie
Vor dem Hintergrund eines seit mehr als 1000 Jahren
ungelösten Konflikts musste das Pulverfass irgendwann einmal explodieren. Vor
allem in den letzten 30 Jahren eskalierte die Stimmung gegen das westliche und
allzu weltliche System.
Anfangs sogar vom Westen unterstützt, pervertierte die aus
dem Krieg der Sowjetunion gegen Afghanistan hervorgegangene Al-Qaida des Osama
Bin Laden zu einem Netz des Schreckens, das sich zum Kampf gegen die von den
USA bestimmte Zukunft rüstete. Und schließlich
wurde am 11. September 2001 das westliche System mit einem fürchterlichen
Coup untertunnelt. Noch im Februar des Jahres analysierte das amerikanische Nachrichtenmagazin
Newsweek Bin Ladens Netz in einer umfassenden Titelgeschichte. »TERROR GOES
GLOBAL«, hieß es dort in fetten Lettern über die Al-Qaida. [6] Im Terroranschlag des 11.
September triumphierte Organisation mit derart brutaler Effektivität über Hochtechnologie,
dass selbst der ideologische Urheber überrascht war. Der hundertjährige Krieg
gegen den Westen, zu dem Bin Laden auf den Websites seiner Zellen aufrufen
ließ, schien voll entbrannt zu sein. Und doch ist die Hoffnung da, dass dieser
Krieg nun zu Ende geht. Denn es kann einfach nicht sein, dass er nun das 21.
Jahrhundert bestimmt. Andernfalls wäre Flusser widerlegt. Die Zeit käme dann
doch aus der Vergangenheit. Wahrscheinlicher ist,
- dass die funktionale Komplexität, die aus der Zukunft uns im Internet entgegenrast, siegen wird
- über die strukturelle Komplexität, die wir in den Institutionen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft einerseits und des Glaubens andererseits errichtet haben.
Der Grund: Der Mensch lässt sich nicht mehr so strukturell
vereinnahmen, wie dies in den vergangenen Jahrhunderten der Fall gewesen
ist.
Heute lässt sich wohl sagen: Die großen, überlieferten
Megatrends gehen beschädigt aus der Katastrophe des 11. Septembers hervor.
Jeder kann es sehen. Die Warteschlangen in den Flughäfen sind ein tägliches
Beispiel dafür, dass der friktionslose, also zeitbruchfreie Kapitalismus
vorläufig gestoppt ist. Das Wirtschaftsmagazin Fortune rechnete aus, dass die
Folgen des 11. Septembers die amerikanische Wirtschaft mit rund 151 Milliarden
Dollar belasten.[7]
Länder wie Argentinien standen zu Beginn des neuen
Jahrhunderts vor dem finanziellen Kollaps, berappelte sich. China avanciert jeden Tag mehr zu einer Supermacht. Gleichzeitig blicken wir im Jahr
2012 wir mit düsteren Erwartungen auf Griechenland, Portugal, Spanien
und Italien. Der Euro durchlebt eine Dauerkrise.
Ein Blick in die Tageszeitung
genügt, um zu sehen, dass die Welt keineswegs so synchronisiert ist, wie es uns
die Börsen in ihrem gleichmäßigen Auf und vor allem Ab vorgaukeln wollen. Und
kaum minder groß ist wohl auch die Identitätskrise, die jene 1,3 Milliarden Menschen
erfasst hat, die sich zum islamischen Glauben bekennen. In einem Interview
meint Salman Rushdie, jener Schriftsteller, der sich wie kein anderer der
Gewalt des Glaubens stellen musste: »Der größte Kampf wird innerhalb des Islams
ausgetragen. Der Krieg zwischen Sunniten und Schiiten ist viel größer als
alles, was zwischen dem Islam und dem Westen geschieht. Auch sind die
muslimischen Länder untereinander nicht alle befreundet, Saudis mögen keine
Iraner, alle hassen die Syrer und so weiter. Es gibt also nicht den Westen und
nicht den Islam. Hier kämpfen keine zwei großen Dinosaurier gegeneinander.« [8]
W2enn der 11. September etwas Positives bewirkt hat, dann
vielleicht dies: Der »Clash of Cultures«, der Zusammenstoß der Kulturen, von
dem der Historiker Samuel Huntington 1993 gewarnt hat, wird mehr und mehr in
der Auseinandersetzung zwischen Individuen und nicht zwischen Institutionen
ausgetragen. Die wutbestimmten Aufstände, mit denen auf das offensichtlich dümmliche
Mohammed-Video reagiert wurde, sind eine dringende Aufforderung an die Menschen
des 21. Jahrhunderts, sich nicht von denen schikanieren zu lassen, die sich der
Wutkultur bedienen. Rushdie sagt es ganz simpel: »Man darf sich niemals beugen.«
Denn es geht um die Deutungshoheit, »darum, wer das Recht hat, eine Geschichte
zu erzählen - und wie. « Und dann weist Rushdie auf die Macht des Individuums
hin, die Macht, die - wenn uns dieses Jahrhundert gelingen will - sich endlich
befreit. »Man darf erzählen, was und wie es einem gefällt. Und zwar jeder.
Geschichten sind unser Erbe, sie gehören uns allen. Wir haben des Recht, sie
uns zu eigen zu machen, sie respektvoll oder respektlos, realisitisch,
phantatstisch, wie auch immer wir wollen, zu erzählen, ausgeschmückt,
angeändert, verkürzt. Und dabei geht es nicht nur um Bücher. Alles ist
Erzählung. In einer unfreien Gesellschaft hast du diese Macht nicht. Darum ging
dieser Kampf: Wer kontrolliert die Erzählung?«
Mit dem Internet haben wir das Medium, in dem jeder seine
Geschichte erzählen kann. Und niemand darf sie kontrollieren.
Mit anderen Worten: Es ist
höchste Zeit für die Zukunft, für unsere Zukunft.
TEIL 1 // TEIL 2 // TEIL 3 // TEIL 4 // TEIL 5 // TEIL 6 // TEIL 7 // TEIL 8 // TEIL 9 // TEIL 10 // TEIL 11 // TEIL 12 //
[1] Frankfurter
Allgemeine Zeitung, October 5, 2012: »Es geht
nur um eines: Wer kontrolliert die Erzählung?«
[2] Die
Welt, December 10, 2001, Martin von Creveld: »Nicht zu schnell den Schleier
ablegen«
[3] The Economist, July 13, 1999, Brian Beedham: »The road
to 2050 – A survey of the new geopolitics«
[4] Newsweek, February 19, 2001, Christopher Dickey,
Carla Power; »A Spreading Islamic Fire«
[5] Newsweek, November 15, 1993: »A Millennium of
Misconceptions«
[6] Newsweek, February 19, 2001: »TERROR GOES GLOBAL«
[7] Fortune, February 18, 2002, Anna Bernasek: »The
Friction Economy«
[8] Frankfurter
Allgemeine Zeitung, October 5, 2012: »Es geht
nur um eines: Wer kontrolliert die Erzählung?«
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen