»Jeder Beweis, der sich auf die Fiktion gründet, ist auch auf die Wahrheit anwendbar.«
Edgar Allen Poe, Schriftsteller
4. Das Faustsche Panorama
Mit ihren weltumspannenden Netzen, die rund um die Uhr im
Einsatz sind, eröffnet die Informatik im Cyberspace ein geradezu faustisches
Panorama: Jeder Mensch erhält sein eigenes Studierzimmer, das Bibliothek und
Laboratorium zugleich ist. Alle Themen aus Natur, Gesellschaft, Ökonomie und
Technik sind um ihn versammelt – für einen »Selbstentwurf, der Allmacht,
Allwissen und Allerfahrung vereinigt.« So beschreibt der Freiburger
Literaturwissenschaftler Gerhard Kaiser den Einstieg in die Fausthandlung.[1] Von seinem Bildschirm aus
kann heute jeder in das Weltgefüge eingreifen, wird Teil jenes »paradiesischen
Landes«, das Faust »mit vielen Millionen Menschen bevölkern« wollte. »Solch ein
Gewimmel möchte ich sehn, /Auf freiem Grund mit freiem Volke steh’n.« Der
Cyberspace steht mit seiner halben Milliarde Bürger bereits als »freier Grund«
bereit.
Doch wo Goethes Held noch Heerscharen von versklavten
Arbeitern benötigte, um einer wachsenden Elite ein Paradies zu bereiten, übernehmen
heute intelligente Maschinen diese Aufgabe. Anders ist allein die Wissensmenge,
die uns zur Verfügung steht, kaum zu meistern. Ein Konversationslexikon der
Goethe-Zeit brauchte 4300 Einträge, um auf 2000 Seiten das gesamte Wissen
abzubilden. Auf CDs finden wir heute eine halbe Million Einträge und mehr, ohne
dass dabei Anspruch auf Vollständigkeit gewährt werden kann. [2] Längst weichen wir
intuitiv auf das Internet aus, wenn wir ein Thema en detail und auf dem
neuesten Stand recherchieren wollen. Leider antwortet uns das Netz noch nicht
intuitiv. Sein Assoziationsspielraum ist begrenzt.
Spezies Kybernetes
Doch das Semantic Web wird dies in den kommenden zehn Jahren
ändern. Avatare, diese virtuellen Gestalten, werden als Wissensagenten, als
unsere Spürnasen der Information für uns unterwegs sein. Wir sind längst dabei,
künstliche, körperlose Wesen zu schaffen, die unserer bisherigen Vorstellung,
dass wir allein auf der Welt seien, über kurz oder lang ein Ende bereiten.
Aus diesem Zusammenspiel formiert sich die
Wissensgesellschaft. In ihr ist jeder sein eigener Chef, sein eigener
Kybernetes, Steuermann, der seinen individuellen Inspirationen folgt und seine
Avatare in die digitalen Wissensräume ausschwirren lässt. Jeder ist ständig auf
der Suche nach neuen Entdeckungen.[3] Für sich – und manchmal
auch für die Menschheit.
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[1]
Merkur, Heft 7, Jahrgang Juli 1994, Gerhard Kaiser: »Vision und Kritik der
Moderne im `Faust II´«
[2]
Future, January 1999, Irene von Hardenberg: »Ist Wissen Macht?«
[3]
Kosmos, August 1964, Wilhelm Wenk: »Was ist Kybernetik?«
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