Donnerstag, 4. Oktober 2012

Der Kampf der Jahrtausende (Teil 6)



»Zukunft gibt es nur nach der Zerstörung.«
Paul Virilio, französischer Philosoph, 1994, *1932[1]

6. Ground Zero

Immer wieder, wenn wir die Zukunft vernachlässigen, werden wir von der vierten Dimension untertunnelt. Sie überrascht uns. Zumeist auf äußerst grausame Weise. Plötzlich steht die Welt still. Dies war deutlich zu sehen in den Ereignissen des 11. September 2001. Alle Fernsehsender der Welt strahlten synchron die­sel­ben Bilder aus. Immer wieder. Die Zeit kreiste um sich selbst. Die Menschheit erstarrte im Entsetzen.

Herren der Zeit

Die elektronischen Medien, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den Herren der Zeit aufgeschwungen hatten, spürten ihre ganze Ohnmacht. Gewohnt, alle Tagesereignisse auf wenige Sendeminuten zu verdichten, mussten sie nun blind dem Zeitchaos des Terrors folgen. Sie waren nur noch die Instrumente in den Händen von selbstmörderischen Fanatikern, die mit äußerster Brutalität diesen Angriff aus dem Nichts inszeniert hatten.
Mehr noch: Am 11. September starben die Medien den eigenen Informationstod. Niemand beherrscht so gut wie sie das Geschäft mit den Schrecken. Täglich überschütten sie uns mit Horrormeldungen und Katastrophenwarnungen. Sie ziehen alle Register des Todes. Sie haben das gesamte Alphabet des Grauens in ihrem Repertoire. Ob Atombombenversuche, Artensterben oder AIDS, ob BSE, Computerviren, Epidemien, Erdbeben, Genmanipulation, Ozonlöcher, Smogalarm oder Waldbrände – nichts wird ausgelassen. Doch die eigentliche Katastrophe bestand darin, dass sie jegliches Empfinden für Gefahr zerstörten.
Zwischen uns – den Empfängern – und der Nachricht gibt es keinen kausalen Zusammenhang. Die Zeit streicht an uns vorbei. Die Sender, die Medien, fungieren als Relais, die außer Lärm nichts mehr weiterleiten. Wenn uns also die Zeit erreichen will, dann muss sie uns untertunneln.
Da die Zeit - laut Flusser - aus der Zukunft kommt, dringt sie immer tiefer vor in die Vergangenheit, bohrt sich in unsere (elektronischen) Gedächtnisse, um sich dann schlagartig zurückzumelden. Plötzlich und in einem Akt der Zerstörung konfrontiert sie uns mit unseren Versäumnissen. Die Zukunft zwingt uns dazu, endlich das Richtige zu unternehmen. Wir sollen einen überkommenen Zeitstrom, eine Epoche, eine Ära beenden.

Das Zeitloch

Dafür steht die Katastrophe des 11. September. An diesem Tag stürzte die Welt in ein Zeitloch. Die New Yorker Börse schloss für den Rest der Woche ihre Pforten. Zeit war nicht mehr Geld. Kein Zivilflugzeug hob mehr vom Boden ab. Der Luftraum war abgeschaltet. Raum und Zeit waren durchbrochen. Auf einer Milliarde Fernsehapparate herrschte nur noch die Gegenwart des Terrors. Es war unerträglich, aber auch untrüglich. Was wir sahen, war die Wahrheit, grausame Wahrheit.
Bilder flimmerten über die Bildschirme, auf die uns zwar so mancher Hollywood-Film vorbereitet, aber in diesem Grauen niemals übertroffen hatte. Das war nicht Hollywood, dessen Disney-Studio im Juni 2001 mit seinem 145 Millionen Dollar teuren Film über Pearl Harbor die Amerikaner an den bis dahin dunkelsten Punkt in ihrer Geschichte erinnert hatte, an den 7. Dezember 1941, als die Japaner die USA angriffen.[2]
Zwei Generationen weiter hatte ihre Geschichte einen neuen, vielleicht noch böseren Zentralpunkt erreicht: »Zwei Flugzeuge rasten in die Türme des World Trade Center – und vor diesem medusenhaften Aufnahmen erstarrten alle Kinobilder«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung.[3] Was die Menschen sahen, war weder Hollywood, noch Reality-TV. Das war der pure, authentische Horror, der sich durch keinen Schnitt im Studio mehr mildern und durch keinen Moderator abschwächen ließ. Es war die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die wir auf unseren Bildschirmen sahen.
Vor dem 11. September hatte die Zukunft düster ausgesehen. Die Weltwirtschaft schien in eine Rezession zu schliddern. Die Phase, in der alles leicht und einfach zu sein schien, driftete ihrem Ende entgegen. Nach dem 11. September gab es noch nicht einmal eine Vergangenheit. Wir waren am Nullpunkt, Ground Zero.
Monate, Jahre würde die Menschheit benötigen, um sich von diesem Schock zu erholen. Erst allmählich begreift sie, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hat. Wir teilen die Zeit in die Zeit vor dem 11. September und in die Zeit danach. Es ist sogar mehr als nur eine Teilung. Es ist eine Spaltung der Zeit.
TEIL 1 // TEIL 2 // TEIL 3 // TEIL 4 // TEIL 5 // TEIL 6 // TEIL 7 // TEIL 8 // TEIL 9 // TEIL 10 // TEIL 11 //



[1] Die Zeit, April 15, 1994, Iris Radisch: »Die Avantgarde des Vergessens«
[2] Newsweek, June 4, 2001: »The real day of infamy«
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, December 29, 2001, Michael Althen: »All diese Momente werden sich in der Zeit verlieren«

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