»Zukunft gibt es nur nach der Zerstörung.«Paul Virilio, französischer Philosoph, 1994, *1932[1]
6. Ground Zero
Immer wieder, wenn wir die Zukunft vernachlässigen, werden
wir von der vierten Dimension untertunnelt. Sie überrascht uns. Zumeist auf
äußerst grausame Weise. Plötzlich steht die Welt still. Dies war deutlich zu
sehen in den Ereignissen des 11. September 2001. Alle Fernsehsender der Welt
strahlten synchron dieselben Bilder aus. Immer wieder. Die Zeit kreiste um
sich selbst. Die Menschheit erstarrte im Entsetzen.
Herren der Zeit
Die elektronischen Medien, die sich in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts zu den Herren der Zeit aufgeschwungen hatten, spürten ihre
ganze Ohnmacht. Gewohnt, alle Tagesereignisse auf wenige Sendeminuten zu
verdichten, mussten sie nun blind dem Zeitchaos des Terrors folgen. Sie waren
nur noch die Instrumente in den Händen von selbstmörderischen Fanatikern, die
mit äußerster Brutalität diesen Angriff aus dem Nichts inszeniert hatten.
Mehr noch: Am 11. September starben die Medien den eigenen
Informationstod. Niemand beherrscht so gut wie sie das Geschäft mit den
Schrecken. Täglich überschütten sie uns mit Horrormeldungen und Katastrophenwarnungen.
Sie ziehen alle Register des Todes. Sie haben das gesamte Alphabet des Grauens
in ihrem Repertoire. Ob Atombombenversuche, Artensterben oder AIDS, ob BSE,
Computerviren, Epidemien, Erdbeben, Genmanipulation, Ozonlöcher, Smogalarm oder
Waldbrände – nichts wird ausgelassen. Doch die eigentliche Katastrophe bestand
darin, dass sie jegliches Empfinden für Gefahr zerstörten.
Zwischen uns – den Empfängern – und der Nachricht gibt es
keinen kausalen Zusammenhang. Die Zeit streicht an uns vorbei. Die Sender, die
Medien, fungieren als Relais, die außer Lärm nichts mehr weiterleiten. Wenn uns
also die Zeit erreichen will, dann muss sie uns untertunneln.
Da die Zeit - laut Flusser - aus der Zukunft kommt, dringt
sie immer tiefer vor in die Vergangenheit, bohrt sich in unsere
(elektronischen) Gedächtnisse, um sich dann schlagartig zurückzumelden.
Plötzlich und in einem Akt der Zerstörung konfrontiert sie uns mit unseren
Versäumnissen. Die Zukunft zwingt uns dazu, endlich das Richtige zu unternehmen.
Wir sollen einen überkommenen Zeitstrom, eine Epoche, eine Ära beenden.
Das Zeitloch
Dafür steht die Katastrophe des 11. September. An diesem Tag
stürzte die Welt in ein Zeitloch. Die New Yorker Börse schloss für den Rest der
Woche ihre Pforten. Zeit war nicht mehr Geld. Kein Zivilflugzeug hob mehr vom
Boden ab. Der Luftraum war abgeschaltet. Raum und Zeit waren durchbrochen. Auf
einer Milliarde Fernsehapparate herrschte nur noch die Gegenwart des Terrors.
Es war unerträglich, aber auch untrüglich. Was wir sahen, war die Wahrheit,
grausame Wahrheit.
Bilder flimmerten über die Bildschirme, auf die uns zwar so
mancher Hollywood-Film vorbereitet, aber in diesem Grauen niemals übertroffen
hatte. Das war nicht Hollywood, dessen Disney-Studio im Juni 2001 mit seinem
145 Millionen Dollar teuren Film über Pearl Harbor die Amerikaner an den bis
dahin dunkelsten Punkt in ihrer Geschichte erinnert hatte, an den 7. Dezember
1941, als die Japaner die USA angriffen.[2]
Zwei Generationen weiter hatte ihre Geschichte einen neuen,
vielleicht noch böseren Zentralpunkt erreicht: »Zwei Flugzeuge rasten in die
Türme des World Trade Center – und vor diesem medusenhaften Aufnahmen
erstarrten alle Kinobilder«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung.[3] Was die Menschen sahen,
war weder Hollywood, noch Reality-TV. Das war der pure, authentische Horror,
der sich durch keinen Schnitt im Studio mehr mildern und durch keinen Moderator
abschwächen ließ. Es war die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die wir auf
unseren Bildschirmen sahen.
Vor dem 11. September hatte die Zukunft düster ausgesehen.
Die Weltwirtschaft schien in eine Rezession zu schliddern. Die Phase, in der alles
leicht und einfach zu sein schien, driftete ihrem Ende entgegen. Nach dem 11.
September gab es noch nicht einmal eine Vergangenheit. Wir waren am Nullpunkt,
Ground Zero.
Monate, Jahre würde die Menschheit benötigen, um sich von
diesem Schock zu erholen. Erst allmählich begreift sie, dass eine neue Zeitrechnung
begonnen hat. Wir teilen die Zeit in die Zeit vor dem 11. September und in die
Zeit danach. Es ist sogar mehr als nur eine Teilung. Es ist eine Spaltung der
Zeit.
TEIL 1 // TEIL 2 // TEIL 3 // TEIL 4 // TEIL 5 // TEIL 6 // TEIL 7 // TEIL 8 // TEIL 9 // TEIL 10 // TEIL 11 //
[1] Die
Zeit, April 15, 1994, Iris Radisch: »Die Avantgarde des Vergessens«
[2] Newsweek, June 4, 2001: »The real day of infamy«
[3]
Frankfurter Allgemeine Zeitung, December 29, 2001, Michael Althen: »All diese
Momente werden sich in der Zeit verlieren«
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