„Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, dass der Mensch sich an den Dingen erquicke? Es ist eine schöne Narrethei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge."Friedrich Nietzsche, Philosoph
4.0 Wittgensteins Vermächtnis
4.1 Die Sehnsucht nach einer Formel
Das Schweigen.
Der Versuch, die Rätsel der Datenwelt zu klären, führt die Informatik hin zur
Linguistik, die von Philosophen wie Ferdinand de Saussure, Bertrand Russel, Alfred North Whitehead,
Noam Chomsky und Ludwig Wittgenstein begründet wurde. Gerade letzterem gehört
das Verdienst, dass er als erster klar erkannt hat, dass „die Formen
sprachlichen Handelns eine gemeinsame Orientierung in der Welt überhaupt erst
ermöglichen“, meint Professor Kuno Lorenz von der Universität Hamburg.[1]
Wittgenstein, der von 1889 bis 1951 lebte, hatte
versucht, Sprache und Logik zu vereinen. In seinem 1921 veröffentlichten
Frühwerk Tractatus definierte er die Welt ontologisch als eine Gesamtheit von „Tatsachen"
und „Sachverhalten". Und das logische Bild der Tatsachen war für ihn der
Gedanke. „Der Gedanke ist der sinnvolle Satz", in dem sich die Welt
abbildet. Durch eine mathematische Formel wollte er dem Satz sogar eine „allgemeine
Form" geben. Mit seinem Tractatus glaubte Wittgenstein „die Probleme im
wesentlichen endgültig gelöst zu haben". Berühmt ist seine Aussage: „Worüber
man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." All das, was sich
also nicht mathematisch abbilden lässt, bleibt dieser Behauptung zufolge besser
ungesagt.
Vor bald einem Jahrhundert, 1912, forderte Wittgenstein
in einem Brief an den Philosophen und Mathematiker Bertrand Russell: „Es muss
sich herausstellen, dass die Logik von völlig anderer Art ist als jede andere
Wissenschaft."[2] Und nach einer solchen
Formel ‑ aus Mathematik& Logik suchen auch die Informatiker. Sie streben
wie Wittgenstein nach einem „mechanistischen Standpunkt", wie es der
Computerphilosoph Vilém Flusser einmal nannte. Ihr unausgesprochenes Credo: Man
müsse nur die Sprache als Hebel ansetzen, um die ganze Welt bewegen zu können.
Die sichere Grundlage, der Stützpunkt, auf dem man diesen Hebel ansetzen könne,
sei die Mathematik. Flusser sieht Wittgenstein damit in der Tradition einer
Geschichte, die mit dem Neandertaler begann (er erfand den Stützpunkt) und über
Archimedes (archimedischer Punkt) bis hin zu Newton (Schwerkraft) führte.[3] Laut
Flusser dachte Wittgenstein, „die Welt sei alles, was der Fall ist. Er meint damit
implizit (wie der Neandertaler, Archimedes und Newton), man könne die Welt aus
den Fugen heben. Nur vergißt Wittgenstein, dass wir zwischen verschiedenen
Sorten von Fällen unterscheiden. Der Fall der Erde auf die Sonne ist eine
andere Sorte von Fall als der Fall des Apfels auf Newton".
In seinen 1953, also nach seinem Tod, veröffentlichten
Philosophischen Untersuchungen rückte
Wittgenstein aber dann deutlich von seinem Tractatus ab. Er glaubte nun
nicht mehr an die unbedingte Exaktheit der Gedanken und Sätze, in die die
Gesamtheit von „Tatsachen" und „Sachverhalten" überführt wird. Er
erkennt die Mehrdeutigkeit einer als inexakt empfundenen Sprache an. Nur aus
dem Gebrauch eines Wortes ergibt sich jetzt für ihn der einzige Weg, über
dessen Bedeutung Erkenntnis zu erhalten. Und in diesen „Philosophischen
Untersuchungen" findet sich der bemerkenswerte Satz: „Die Probleme werden
gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung
des längst Bekannten."
Um nichts anderes geht es bei der Datenmodellierung:
Sie ist eine Zusammenstellung des längst Bekannten, auch wenn es zum Beispiel
in den bestehenden Anwendungen verborgen ist. Sie versucht nicht nur, den
faktischen Datengebrauch zu konstatieren, sondern vielmehr die dahinter liegenden
Einsichten zu rekonstruieren und in Beziehungen zueinander zu setzen. Ja, die
Beziehungen untereinander sind der Schlüssel. Nur das Verhältnis der Dinge
zueinander, könne die Welt repräsentieren. Ohne den Wunsch zu ändern, würde
dieser Klärungsprozeß indes zu l`art pour l`art. Die Datenmodellierung wäre ein
teures akademisches Spiel, das nur die betreiben würden, die sich aus der
Wirklichkeit verabschiedet haben.
Dieser Gefahr unterlag auch die von Wittgenstein im Tractatus entwickelte
Philosophie, in der er die Sprache seinem „Ideal mathematischer Schönheit"
unterwarf. „Hier formulierte ein Ingeniuer", bemerkte dazu 1991 die
Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Und dann heißt es weiter: „Eine
Grundidee Wittgensteins war, dass es
eine Sprache geben müsse, die die Welt `isomorph, das heißt strukturgleich abbildet,
eine Sprache als wahres Bild der Welt."[4]
Wittgenstein wollte mit dieser Annäherung den Sprachverwirrungen entrinnen.
Sein Bemühen galt dem „Kampf gegen die Verhexung unserer Sprache durch die Mittel
unserer Sprache".[5]
Deshalb versuchte er, ihr immer wieder auf den Grund zu gehen, wobei das, was
er produzierte, weder Wissenschaft noch Kunst war. Es war Philosophie,
wenngleich er sich selbst unentwegt fragte, „ob das, was er da trieb, wirklich
Philosophie, wirklich philosophisch war", analysierte 1989 Henning Ritter
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[6]
Was Wittgenstein so anziehend macht, war seine „wunderbare
Gabe, die Dinge immer wieder wie zum ersten Mal zu sehen. Aber es zeigt sich
doch [...] wie schwer eine gemeinsame Arbeit ist, da er eben immer wieder der
Eingebung des Augenblicks folgt und das niederreißt, was er vorher entworfen
hat", kommentierte 1934 der Philosoph Friedrich Waisman.[7]
„Er war ‑ um es in der Sprache der Schulkinder auszudrücken
‑ eine Nervensäge und ein Besserwisser", meinte einmal Fania Pascal, seine Russischlehrerin
in den dreißiger Jahren.[8]
Genau das macht die Auseinandersetzung mit seinem Werk so schwierig. Viele „Denkverwandtschaften",
die in den zahlreichen Beurteilungen und Interpretationen seiner Arbeit
zelebriert werden, erweisen sich „bei näherem Hinsehen als Fata Morgana", meint 1989 der Wittgenstein‑Kenner Reinhard Merkel in der
Wochenzeitung Die Zeit.[9]
Schon seine Zeitgenossen taten sich mit diesem Mann schwer,
der immer wieder auf dem Elementaren beharrte ‑ wie es übrigens auch die
Datenmodellierer tun. So berichtet Bertrand
Russell über ein Erlebnis mit dem jungen Wittgenstein: „Ganz zu Anfang hatte ich Zweifel, ob er ein Genie
oder ein Spinner wäre. Einmal behauptete er, alle Existenzaussagen seien
sinnlos. Wir waren gerade in einem Hörsaal und ich forderte ihn auf, über die
folgende Aussage nachzudenken. `In diesem Raum ist jetzt kein Nilpferd'. Als er
sich weigerte, dies zu glauben, schaute ich unter allen Tischen nach, fand aber
keins. Er ließ sich trotzdem nicht überzeugen." Und der
Wirtschaftswissenschaftler John
Maynard Keynes nahm Wittgenstein
auf die Schippe, als er 1915 in einem Antwortschreiben formulierte: „Lieber Wittgenstein, ich war erstaunt, einen
Brief von dir zu bekommen. Glaubst Du, er beweist, dass du während der kurzen
Zeit existiert hast, als ich ihn erhielt?..."[10]
Die Datenmodellierer, die Informatiker, die ihn so für sich
vereinnahmen, sollten dies berücksichtigen. Sie sind unterwegs zu dem, was der
Philosoph Gerhard Vollmer
einmal die „Minimalbeschreibung der Welt" nannte und damit das Gemeinsame
aller Wissenschaften meinte.[11] Minimalbeschreibungen des
Wissens eines Unternehmens, einer Branche, von Organisationen schlechthin sind
auch Datenmodelle. So wie Wittgenstein „die Wörter von ihrer
mataphysischen wieder auf ihre alltägliche Bedeutung" zurückführen wollte,
so wollen die Informatiker mit Hilfe
wird der Datenmodellierung gleichsam die
Alltagssprache einer Organisation untersuchen und einheitlich definieren. Man
versucht über die Datenmodellierung ein
Spiegelbild der Wirklichkeit zu bekommen. Kein einfaches Unterfangen. „Man muss
nicht Machiavelli oder andere
Veristen zitieren, um darauf hinzuweisen, dass Sprache nicht allein der
Abbildung der Wirklichkeit und der Weitergabe von Informationen dient, sondern
auch der Verschleierung der Realität und der Bewahrung der arcana imperii", warnt der
Historiker Karlheinz Weißmann.[12] Übertragen auf die Datenmodellierung heißt dies: sie geht auch
den Lügen auf den Grund, die sich in den Datenbanksystemen versteckt haben. Und
dabei sind sie so erfolgreich, dass ‑ so geht die Mär ‑ zum Beispiel ein großes
deutsches Unternehmen die Datenmodellierung
deswegen eingestellt haben soll, weil sie zuviele Lügengebäude entdeckt hat.
Keimfreie Sprachwelt. Sprache ist Herrschaft ‑ und vor
diesem Hintergrund wird die
Datenmodellierung von den Benutzern mit einigem Argwohn betrachtet. Denn
sie versucht, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, gleichzeitig aber die
erkundete Welt in ein Modell zu fassen. Der britische Philosoph Peter Winch
schrieb 1987 in der Tradition Wittgensteins: „Wenn wir verstehen wollen, in
welcher Weise ein Ideensystem mit der Wirklichkeit zusammenhängt, gehen wir am
besten so vor, dass wir die wirkliche Anwendung dieser Ideen im Leben
untersuchen." Bei diesem Bemühen ‑ übertragen auf die Datenmodellierung kann es aber zu einer
Kollision zweier Ansichtswelten kommen, nämlich die der Datenmodellierer und der Benutzer. Winch
nennt dies das „nicht reibungslose Zusammentreffen zweier Sprachspiele".
Die Benutzer befürchten, dass ihnen dadurch ihre Lebenswelt
erneut entfremdet wird, wie sie dies zuvor mit dem Einzug der Computer hatten
wiederholt erleben müssen. Durch
Datenmodellierung werde Wirklichkeit „weggezogen", eben abstrahiert
und das so entstandene Modell als
objektive Wahrheit dargestellt. Die Spiegelwelt, die sie errichten möchte,
verselbständigt sich von der Wirklichkeit, versucht ihr ihre Ordnung zu
oktroyieren. Diese Ordnung ist nicht den untersuchten Dingen inhärent, sondern
kommt aus den „Praktiken der Wissenschaft" (Winch), also zum Beispiel dem
auf der Mathematik beruhenden Entity Relationship Modell.
Am Ende ‑ so der Verdacht ‑ ist diese aufgezwungene Ordnung
selbst Ursache für das Chaos, unter dem die Realität leidet. Solche Vorwürfe
haben ihren Hintergrund zum Beispiel in den chaotischen Zuständen an den
hochinformatisierten Kapitalmärkten, in denen inzwischen ‑ um Flussers
Gedankengang einmal anzuwenden ‑ der Zu‑Fall der vorherrschende Fall ist. Durch
massiven Computereinsatz wurde hier nichts anderes als eine globale Spielhölle
erzeugt, in der leichtfertig mit dem Schicksal von Unternehmen und
Volkswirtschaften gepokert werde. Am Ende bleiben ausgeblutete und überschuldete
Unternehmen übrig.
Ein anderer Vorwurf mag reflektieren, dass die Datenmodellierer versuchen, ein geschlossenes
System zu errichten, das nach den strengen Regeln von Ursache und Wirkung
aufgebaut ist. Alles, was in diesem System geschieht, ist genau vorhersehbar.
Die Verknüpfungen und Verbindungen sind ein für allemal festgelegt. Und da die
meisten Benutzer noch unter der Starrheit der alten Anwendungssysteme leiden,
haben sie nun Angst, dass die
Datenmodellierung nichts anderes als ein neuerlicher Versuch sei, eine
prästabilisierte Ordnung herzustellen, aus der es kein Entrinnen gibt. Ihr
Argwohn: irgendwann werde diese auf hohem Abstraktionsniveau geschaffene
Ordnung in Chaos umschlagen. (Siehe Kapitalmärkte)
„Die Datenmodellierer müssen aufpassen, dass sie
nicht als Abstraktionskünstler verschrien werden", sinniert Horst Behr,
Experte im Bereich Programming Systems der IBM Deutschland. Sie laufen Gefahr
in einer Begriffswelt zu schweben, die in den Verdacht geraten kann, nichts
mehr gemein zu haben mit den Werten und Worten der Benutzer, weil sie zu sehr
von ihnen abgehoben hat. Eine ähnliche Tendenz war auch Wittgenstein
vorgeworfen worden. Was dahinter steht, ist die Kollision einer keimfreien,
abstrahierten Sprache mit der Erlebnissprache des Alltages.
Professor Herbert Marcuse, ein 1934 in die USA emigrierter
marxistischer Philosoph und Soziologe, warnte 1964 in einer Auseinandersetzung
mit Wittgensteins Philosophie davor, dass durch eine „analytische Behandlung
der Alltagssprache" eben diese „wirklich keimfrei und unempfindlich
gemacht" werde. Sie überträgt die „Alltagssprache in ein spezielles
akademisches Universum", das „selbst dort (und gerade dort) gereinigt und
synthetisch ist, wo es mit Alltagssprache angefüllt wird". Und weiter: „Die
vieldimensionale Sprache wird in eine eindimensionale Sprache verwandelt, in
der verschiedene und einander widerstreitende Bedeutungen sich nicht mehr
durchdringen, sondern auseinander gehalten werden; die sprengende historische
Bedeutungsdimension wird zum Schweigen gebracht".
Verstärkt wird diese Tendenz noch dadurch, dass die Datenmodellierer dazu neigen, sich unter
Berufung auf die Mathematik mit höchster wissenschaftlicher Autorität zu
umgeben. Die mathematische Grundlage, die sie ihrer Kunst geben, soll jede
Kritik im Keim ersticken. Die Mathematik ist für sie das alleinige Medium, das
die sorgfältig sezierten Dinge wieder miteinander verbindet.
Abstraktionsmarathon. In der Kombination von
Mathematik und Sprachanalyse glauben die
Datenmodellierer eine wissenschaftliche „Sicherheitsstrategie"
entwickeln zu können. Mit ihrem Abstraktionsmarathon ‑ die Entwicklung eines
fein granulierten Datenmodells kann bis
zu zehn Jahre dauern ‑ nähern sie sich dem Punkt, wo ihre Erkenntnisse nur noch
als trivial empfunden werden kann. Je eindeutiger etwas festgelegt oder
definiert ist, desto geringer ist auch der Gehalt. „Eine Aussage ist
geltungsmäßig von vornherein umso wahrscheinlicher, je geringer ihr
Informationsgehalt ist", warnt der Philosoph Helmut Spinner vor solchen Annäherungen.[13] Was vielmehr benötigt
wird, ist das „Streben nach interessanten, hochinformativen Theorien" ‑
selbst auf die Gefahr hin, dass sie unwahrscheinlich sind. Spinner: „Sicherheitsstrategien
fördern bestenfalls informationsarme Trivialitäten zutage, nichtssagende
Allerweltsformeln, die durchaus wahr sein mögen, aber mangels
Problemlösungskraft ‑ die ja direkt vom Informationsgehalt abhängig ist ‑ für
die Wissenschaft uninteressant sind, weil sie zur Erkenntnis der Wirklichkeit
ja doch nichts oder nur wenig beitragen", formuliert Spinner.[14]
So weit darf es nicht kommen, wobei Marcuse durchaus einen
großen Bedarf an Sprachanalyse attestiert, denn wir verstehen „einander nur
durch ganze Bereiche des Missverständnisses und des Widerspruchs hindurch. Das
wirkliche Universum der Alltagssprache ist das des Kampfes ums Dasein. Es ist
in der Tat ein zweideutiges, vages und dunkles Universum und bedarf sicherlich
der Klärung. Eine solche Klärung kann durchaus eine therapeutische Funktion
erfüllen..."[15]
Vetter benutzt zwar
diesen Begriff nicht, doch auch er geht von einer therapeutischen Wirkung
der Datenmodellierung aus: „Nur wenn wir
lernen, ganzheitliche, in ein Gesamtkonzept passende Lösungen für
Einzelprobleme zu entwickeln und alle Betroffenen an der Lösungsfindung
beteiligen, werden wir im Sinne der Systemtheorie zu einer Integration, zu
einem Zusammenspiel von Systemen, zu einer technischen wie auch geistig‑ideologischen,
den Menschen miteinschließenden Vernetzung und damit letzten Endes zu einer für
alle Beteiligten vorteilhaften Nutzung kommen." Und deshalb empfiehlt er,
auch dann mit „der Schaffung eines globalen
Datenmodells" zu beginnen, „wenn dessen Etablierung auf einem
System gar nicht zur Debatte stehen".[16] In der Datenmodellierung zeigt sich, wie „sehr
die Informatik von der Sprachphilosophie
profitiert hat", erklärt Behr. Und
Münzenberger ergänzt: „Die
Informatik ist eben eine Querschnitts‑Disziplin, die sich aus sehr
vielen Quellen speist". Eine Eigenschaft, die sich diese junge
Wissenschaft unbedingt erhalten sollte, wenngleich gerade dieses Einwirken
vieler Strömungen eine esoterische Abkapselung als Reaktion hervorrufen kann.
4.2 Der Informations‑Drache
Die Sicherheitspioniere. In der Datenmodellierung prallen zwei Welten
aufeinander, die der Abstraktion und Struktur und die der Ereignisse und des
Chaos. Für die Mathematiker sind es die lineare und die nonlineare Welt.
Letzterer wollen sie durch ihre Chaos‑Theorie zuleibe rücken. Das
Magazin der Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb dazu im Mai 1991 in
einem ausführlichen Bericht: „In der Chaos‑Theorie könnte man [..] den Versuch
sehen, einen letzten wissenschaftlichen Rettungsring zu bauen. Er muss groß
genug sein, die ganze Welt zu tragen." Sie ist also der neue Stützpunkt.
Der Philosoh Ernst Bloch schrieb 1929 ein wunderbares
Essay über den Ingenieur. Und beim Lesen spürt man, dass dieser Ingenieur von damals
viel gemeinsam hat mit dem Informatiker
von heute. Der Techniker sei vom „Ritter, vom Abenteurer schlechterdings
verschieden", formuliert Bloch. Denn im Gegensatz zum Helden der
Vergangenheit sucht der Techniker nicht, „sondern er fürchtet das ungesicherte
Leben, erschrickt vor allem, was während der Jagd aufspringt. Dergestalt legt
er tausend durchrationalisierte Sicherungen, damit das Neue ja nicht anders angetroffen
werde als das Gewohnte. Auch der neuere Erfinder, der technische Pionier ist
nicht recht ein Ritter, der Abenteuer sucht, um ihrer selbst willen, mit
Wildnis und Drachenhaftem darin, woran sich Mut zu erproben hätte. Er übt auf
dem Vormarsch eher viel List, erprobte Kentnisse, mit Sicherungen; er
erschrickt sinngemäß, wenn die Sicherung, vor der angetroffenen Stromstärke, zu
schwach ist, durchschmilzt. Die Chance des Unfalls soll rechtens auf ein Minimum
herabgesetzt werden, und diese Chance mehrt sich bei jedem Vordringen in
Unbekanntes." Und schließlich bemerkt Bloch: „Gibt es freilich in
einer durchaus rechenhaften Welt keine Ritter vor dem Unbekantem mehr, so doch
auch nicht ihr völliges Gegenteil. Im modernen Ingenieur größeren Stils, qua
größeren Stils, ist Wagniswesen durchaus enthalten, trotz des einschneidenden
Unterschieds solcher Pioniere und der Gefahrensuchenden. Und auch Hybris
lebt noch, obzwar empirisch gedämpft, kalkuliert und so relativ versickert, in
der Brust des Erfinders."[17]
So wirken auch die Datenmodellierer,
die auf dem Wege sind den Drachen „Information" mit seinen vielen Häuptern
zu erledigen.
Warehouse & Kirchturm. Die Datenmodellierung aber liefert nun einen sehr
viel besseren Ansatz, das Denken offen zu halten. Sie geht zurück zum Ursprung.
Sie versucht die Rätsel, die uns der Rohstoff „Information" aufgibt,
aufzulösen. Und kräftige Hilfestellung kann dabei das von der IBM am
11.September 1991 vorgestellte Information Warehouse leisten, das ‑ vorerst als
„neues Konzept" vorgestellt ‑ die Akzeptanz der Informationsverarbeitung
auch beim Management heben wird: „Das Warehouse wurde mit dem Ziel entworfen,
den Leuten zu helfen, die Informationen zu bekommen, die bislang für sie nur
sehr schwer zugänglich waren", berichtet Arnold Kraft, Präsident und Chief
Executive Officer bei Bachman Information Systems. Dieser AD/Cycle‑Partner
liefert dabei Tools, die die Datenmodellierung
im Warehouse vereinfachen. Kraft: „Vor allem kann man unsere Tools benutzen, um
die Entitäten, Attribute und Beziehungen in der Datenbank aufzudecken, so dass
man selbst versteht, was tatsächlich von struktureller Bedeutung ist und was
nicht. Wir können dies graphisch demonstrieren, so dass die Strukturen der
Datenbank bildhaft werden".[18]
Koordinierung von Menschen. Das Information Warehouse
soll helfen die völlig desorganisierte Welt der Daten zu erkunden. „Die Verwirrungen,
die uns beschäftigen, entstehen gleichsam, wenn die Sprache leerläuft, nicht
wenn sie arbeitet", schreibt Wittgenstein in seinen „Untersuchungen".
Übertragen auf die Informatik möchte man
sagen: die Verwirrungen entstehen, wenn sich die Daten dem Integrationsprozess
entziehen. Sie arbeiten nur für spezielle Anwendungen, von denen müssen sie
befreit werden. Der Philosoph Wittgenstein sagt: „Die eigentliche
Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann
ich will."[19]
Der Datenmodellierer wurde sagen: „Die
eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, die Anwendung abzubrechen
(abzutrennen), wann ich will."
Wie drängend diese „Entdeckung" ist, macht Bill
Kalafus, Datenbankadministrator bei der Tri State Generation in Denver
deutlich: „Das Konzept des Data Managements versucht die Kirchturmpolitik zu
durchbrechen, die bislang von den Eigentümern der Daten praktiziert wurde.
Dabei wird der Eigentumsvorbehalt, demzufolge die Daten einer Abteilung, einer
Anwendung oder gar einer Person gehören, aufgehoben. Man stellt die Daten in
einen größeren Zusammenhang. Ein unternehmensweiter Datensee wird definiert, in
den nun die Anwendungen hineinfließen, aus dem Daten herausgezogen, manipuliert
und in neue Kombinationen zusammengestellt werden können. Das Problem ist nur, dass
dieser See zu groß und zu unterschiedlich ist, um allein nützlich zu
sein."[20]
Kurzum: Er muss strukturiert werden.
Das Information Warehouse bildet nun das Sammelbecken aller
Daten. Es durchbricht dabei die Innenwelt der Abteilungen, die mit ihrem omnipotenten
Praxisanspruch die von ihnen zunehmend abhängigen Software‑Entwickler in
Schneckenhäuser verbannt haben. Hier liegt vielleicht die Hauptursache für das
introvertierte Image der Informatiker,
die mit ihrem Gegenangriff ‑ der Datenmodellierung
prompt dem Verdacht ausgesetzt sind, akademische Sandkastenspiele zu betreiben.
Denn die mit der Datenmodellierung
einhergehende Standardisierung wird von den Abteilungen als eine eher
langweilige Aufgabe empfunden. Klagt der amerikanische Datenbankspezialist
Arvind D. Shah, Prinzipal bei der Performance Development Corp. in Princeton
(New Jersey): „Standardisierung ist eine notwendige Voraussetzung, um Daten
vernünftig zu managen. Die Mehrheit der Benutzer stimmen in den Verhandlungen
auch sofort dieser Idee der Datenstandardisierung zu. Oftmals ist es sogar
etwas, worauf sie schon lange hofften. Aber wenn der Augenblick der Wahrheit
kommt und man tatsächlich damit beginnt, die Datendefinitionen zu prägen, dann
fangen sie an zu lamentieren und erklären, dass dies zu lange dauern würde. Das
Projekt würde nicht mehr rechtzeitig fertig. Es sei noch soviel zu tun, dass
man sich weiteres Zögern nicht leisten könne. Denn dann verlöre das Projekt
seine Bedeutung. Plötzlich sind für sie Standards weniger wichtig. Sie wollen
nun, dass ihre Konventionen ganz einfach für alle gelten."[21] Der Funktionalismus
feiert.
Die Benutzer wissen, was sie wollen. Aber in der
Kommunikation mit der Informatik kam
zumeist nur der Wille rüber, nicht das Wissen. Und das hat seinen Grund darin, dass
der Wille der Benutzer viel präziser ist als ihre Erkenntnis. Hat dann der im
Projektverlauf kräftig fluktuierende Funktionalismus triumphiert, ist das
Wissen in seiner amorphen Struktur voll in die Anwendungen übergegangen. Wird
nun im Rahmen der Datenmodellierung
versucht, einen Teil dieses Wissens unterscheidend zu rekonstruieren und zu
präzisieren, dann wird das von den Benutzern als eine brotlose Kunst empfunden.
Was sie wollen, ist das, was die Anwendung noch nicht erfüllt. Sie treiben den
Funktionalismus weiter. Der Datenmodellierer
aber will an die Vergangenheit heran, ein höchst unpopulärer Anspruch.
Doch es gibt dazu keine Alternative. Der Philosoph Hans
Jonas schreibt in seinem Buch „Prinzip Verantwortung" zum Thema „Die
Vergangenheit als Quelle des Wissens vom Menschen": „Soweit es praktisch
ist, das heißt fürs planende Handeln, etwas von der `Geschichte' zu lernen gibt
(eine schwankende Möglichkeit, da `Vergessen' zum Schöpferischen gehört), so muss
man mit dem einzigen Wissen, das wir vom Menschen haben, an das Entwerfen der
Zukunft gehen, soweit es so etwas überhaupt gibt. Jedes wirklich im Gewesenen
verborgene `Noch‑Nicht' (über das uns das Gewesene selbst nichts sagen
kann) wird sich in der Ankunft des Entworfenen als Überraschung herausstellen ‑
und nichts steht dafür, dass es immer eine freudige ist; aber selbst diese so
wenig wie ihr Gegenteil bringt das Subjekt `seinem' Prädikat näher (beide gehen
vielmehr aus ihm hervor: keine verkörpert teleologisch ein angelegtes Ziel
seiner Natur." [22]
Die Datenmodellierung
‑ und das macht sie in den Augen der Funktionalisten so suspekt ‑ entwirft
nicht die Wirklichkeit, sondern bildet sie ab. Sie legt dabei nicht nur das „Vergessene"
frei, sondern schonungslos auch das, was man vergessen möchte. Sie klärt, was
wir wissen, aber sie mildert nicht unsere Ungewissheit. Darüber muss sie ‑ nach
Wittgenstein ‑ schweigen. Im Funktionalismus hingegen sehen dessen
Apologeten Zielgerichtetheit. Doch es entartet zu einer atemlosen Flucht nach
vorn. Der eindimensional ausgerichtete Funktionalismus mit seinem „erbarmungslosen
Optimismus" (nach Jonas) verrät das Ziel, das er besetzen möchte, weil er
seine Herkunft verleugnet oder vergräbt. Schlimmer noch: in seiner Ungeduld,
mit der er das Bestehende betrachtet, hat er das Überraschungsmoment immer
gegen sich. Die Datenmodellierung kann
die Überraschungen nicht verhindern, was sich übrigens der Funktionalismus insgeheim
anmaßt. Sie erhöht auch nicht die Reaktionsfähigkeit auf unerwartete
Ereignisse, was ebenfalls der Funktionalismus in Abertausenden von
Werbeschriften als Standardbotschaft verheißt. Die Datenmodellierung schenkt vielmehr die
Möglichkeit, bewußtes, gemeinschaftliches Handeln auf Ereignisse jeder Art zu
praktizieren.
„Am Datenmodell geht
kein Weg vorbei, wenn man die Informationsbasis seines Unternehmens
zukunftssicher gestalten will", meint Pass‑Chef Rienecker. „Nur so kann
der Datentaylorismus überwunden werden, der erzeugt wurde durch den
Funktionstaylorismus", setzt Heiner Emrich, bis Januar 1992 DV‑Chef beim
Maschinenbauer Wilhelm Fette in Schwarzenbek bei Hamburg, nach. „Wir brauchen
keine Rationalisierungs‑Gurus, sondern die synergetischen Effekte müssen freigelegt
werden." Bestätigt Eerko Weeke, Geschäftsführer beim Softwarehaus weeke
& mühling in Dortmund: „Erst wenn alle Unternehmensfunktionen das gleiche
Verständnis von Dateninhalten und deren Verwendung haben, wird eine Integration
unterschiedlicher Systeme möglich". Dann werden zum Beispiel solche
Visionen wie CIM wahr.
[1] Kuno Lorenz: „Die Höhepunkte der
sprachlichanalytischen Philosophie ‑ Ludwig Wittgensteins Vermittlung von
logischem Empirismus und linguistischem Phänomenalismus" in „Linguistik
und Sprachphilosophie, München, 1974, ISBN 3 472 6 1427 3
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.4.1989, Henning
Ritter: „Wo Andre weitergehn, dort bleib ich stehn ‑ Ludwig Wittgenstein“
[5] Die Zeit, 26.8.1978, Willy Hochkeppel: „Denken in
unserer Zeit"
[6] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.4.89, Henning
Ritter: „Wo Andre weitergehn, dort bleib ich stehn ‑ Ludwig Wittgenstein ‑ Die
Welt im Kopf"
[7] Entnommen aus: Die Zeit, 1.9.1989, Reinhard
Merkel: „Das Klappen der Schere des Haarschneiders"
[8] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.4.89, Henning Ritter…
[9] Die Zeit, 1.9.89, Reinhard Merkel…
[10]
Die Zeit, 28.4.89, Reinhard Merkel: „`Du wirst am Ende verstanden werden'"
[11]
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.87, Andreas Kuhlmann: „Ruhe bei den
Kämpfern"
[12]
Die Welt, 4.4.92, Karlheinz Weißmann: „Management by love" >]
[13]
Helmut Spinner, Frankfurt 1974: „Pluralismus
als Erkenntnismodell"
[14]
Helmut Spinner, Frankfurt 1974: „Pluralismus als Erkenntnismodell"
[15]
Herbert Marcuse, Neuwied 1967. „Der eindimensionale Mensch"
[16] Institut '90, IBM Deutschland GmbH, Stuttgart,
12.‑13.9.90, Vortragsunterlagen, Dr. Max Vetter: „Die globale Datenmodellierung
zur Lösung des `Jahrhundertproblems der Informatik'“
[17]
Ernst Bloch, Frankfurt 1962: „Verfremdungen ‑ Die Angst des Ingenieurs"
[18] Computerworld, 2.9.91, Rosemary
Hamilton: „Bachman on Warehouse team"
[19]
Ludwig Wittgenstein, Oxford 1958: „Philosophische Untersuchungen"
[20] Computerworld, 2.9.91, Bill
Kalafus: „There's no excuse for disorganized data"
[21] Datamation, 1/84, Arvind D. Shah : „Data
Administration: it's crucial"
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