Freitag, 23. November 2012

1992 GIGAsteps Classics: Insourcing (Teil1)



»Anderthalb Jahrzehnte gehörte dieses Thema zur Informatik‑Esoterik: die Datenmodellierung. Sie galt als eine Investition, die keiner sieht. Doch spätestens dann, wenn es um Integration geht, macht sich das Fehlen von Datenmodellen bitter bemerkbar. Das Datenchaos, bereits als „Jahrhundertproblem der Informatik" identifiziert, quillt hoch aus dem Untergrund der Systeme. Es muss etwas getan werden.« 
So begann vor 20 Jahren eine GIGAsteps-Story über Datenmodelle. Was damals die IT plagte, beschäftigt sie bis heute. Denn viele der zumeist unsichtbaren Infrastruktur-Investitionen belasten nach wie vor das Verhältnis zwischen dem Vorstand der Unternehmen und ihrer IT. Der Grund: Diese Investitionen sind nichts, womit man auf dem Golfplatz angeben kann. Sie imponieren niemandem. Dabei verdienen die Leute, die diese "Kanalarbeiten" machen eigentlich unseren höchsten Respekt. Der Rückblick auf diese Ausgabe der GIGAsteps, damals die Untergrundliteratur der Computerbranche, soll deshalb ein Stück Werbung sein für alle, die über das Quartal hinaus denken und handeln. Es soll davon ja doch noch einige geben. 



Vorspiel

Nachrichten aus dem Untergrund

Chicago. Montag, 13. April 1992. Plötzlich kam die Urflut. Sie ergoss sich nicht von oben, sondern stieg aus den Tiefen der Stadt empor und durchtoste alles. Zuerst eroberte sie die Untergrundbahn, dann Fußgängertunnel. Sie drang ein in die Keller und überschwemmte die Straßen. Mit der Flut kamen die Goldfische und eroberten Chicagos glitzerndes Geschäftszentrum. 
Dann ging in 200 Prachtbauten das Licht aus. Fahrstühle blieben stehen. Computersysteme stürzten ab oder schalteten schnell um auf Notstrom. Bald aber waren auch diese Aggregate leer. Die Stadt war lahmgelegt.[1]
Nichts ging mehr an der weltgrößten Terminbörse, dem Chicago Board of Trade (CBOT), wo immerhin 85 Prozent aller Future‑Kontrakte der USA gehandelt werden.[2] Der Gesamtschaden: rund eine Milliarde Dollar.
Was war geschehen?
Megaliter. Aus Versehen hatten bereits zwei Monate zuvor Arbeiter den Chicago River angebohrt, der mitten durch die Stadt fließt. Rund 950 „Megaliter" (Time) dreckigen und kalten Wassers ergossen sich somit langsam über ein 96 Kilometer weites, völlig verkommenes und längst vergessenes Tunnelsystem, das die Bürger Chicagos um die Jahrhundertwende für den Gütertransport vom Hafen in die Stadt errichtet hatten.[3] Das Wasser stieg höher und höher, schließlich legte es die Lebensnerven der Stadt lahm. Jedes Liter Wasser, das durch das Loch ‑ so groß wie ein VW‑Bus ‑ schoss, erzeugte auf seinem Weg an die Oberfläche einen Schaden von nahezu einer Million Dollar.
Nach einer Woche war der Spuk vorbei. Aber dafür hatten die Bürger Chicagos nun eine neue Sorge: Was geschieht, wenn das von den Wassermassen gebeutelte Tunnelsystem zusammenbricht? Es käme einem Erdbeben gleich, warnte das Nachrichtenmagazin Time.
Die Architekten sind gefordert.
Die Fundamente müssen erneuert werden, ohne die wolkenkratzenden Büropaläste der Moderne und Postmoderne zu gefährden.
Dabei hätte die Katastrophe mit einem Aufwand von 10.000 Dollar vermieden werden können, wenn das Loch rechtzeitig gestopft worden wäre. Doch niemand hatte sich darum gekümmert, obwohl die Verantwortlichen sofort informiert worden waren.
Meint voller Sarkasmus Professor Clark Barret, Experte für Städteplanung am Illinois Institute of Technology: »Politiker möchten niemals Geld ausgeben für etwas, das niemand sieht.«[4]


[1] Financial Times, 14.4.92, Barbara Durr: „Futures trading in Chicago stopped by flood"
[2] Business Week, 9.3.92: „Has Chicago lost its edge"
[3] Time, 27.4.92: „Windy City? Wet is more like it"
[4] Financial Times, 21.4.92, Barbara Durr: „Chicago reputation washed away"

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