Das ist das banale Erfolgsgeheimnis hinter allen gelungenen Projekten: Viel Gespür wird verlangt und exzellentes Management. Das gilt nicht nur für Geldinstitute, das gilt für alle Bereiche unserer Wirtschaft. Natürlich hatten bei Taurus die Hundertschaften von Software Entwickler versagt, aber mehr noch das Management, das Ministerium, die Berater und die Börsianer. Was durch die vielen Änderungen geradezu systematisch torpediert wurde, war die Errichtung eines gemeinsamen Modells, einer Architektur, nach der alle Beteiligten arbeiten konnten. Denn eine fundierte Architektur hätte als Konstituierung eines Gemeinschaftswillens natürliche und formale Autorität in sich vereinigen können. Es wäre die Voraussetzung gewesen, um dieses vielfältig und über Unternehmensgrenzen verknüpfte System zum Laufen zu bringen. Es hätte eine katalysierende Wirkung gehabt.
Auf spektakuläre Weise zeigt sich im Taurus Projekt, dass Manager und Experten oftmals Stümper sind, wenn es darum geht, Dinge zusam¬men¬zu-bringen. Was sie beherrschen, ist das Trennen & Teilen. Dann - so wissen sie seit Henry Ford und Frederick Winslow Taylor - ist auch Macht dahinter. Die, die das Zusammenfügen versuchen, Gemeinschaftsaspekte in den Vordergrund zu bringen, waren stets ohne Macht. Jeder IT Manager, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Karriere gemacht hatte, konnte davon ein Liedchen singen. Und bei Taurus wurde dies für die Insider deutlich sichtbar.
Je mehr Taurus Wirklichkeit wurde, desto weniger wussten die Parteien, was sie eigentlich wollten. Das Konzept, auf das man sich 1989 geeinigt hatte, wurde immer wieder geändert bis es keins mehr war. So war es bereits dem ursprünglichen Vorschlag gegangen, wie es 1981 angedacht gewesen war. Es sollte aus einer zentralen Datenbank bestehen (Taurus I) und war 1988 verworfen worden. Und man wird im Nachhinein den Eindruck nicht los, dass dies während der ganzen Zeit sogar die heimliche Absicht so mancher Machinhaber war. Ein Projekt sollte zu Tode geschunden werden.
An diesem 11. März 1993 war es dann soweit gewesen. Ein letztes Aufbrüllen. Der Stier war tot. Zu viele hatten auf ihn eingestochen. Er, der den Papiertiger besiegen sollte, war nun nichts anderes als eine Dateileiche.
Totes Monster. Die Reaktion schwankte zwischen Erleichterung und Bestürzung. »Es ist ein Desaster für London«, schimpfte Michael Marks, Aktienhändler beim Brokerhaus Smith New Courts. »Das Monster ist tot«, freute sich hingegen David Jones, Chief Executive Officer beim Discount Broker Sharelink. Er hatte befürchtet, dass Taurus nur für die großen, institutionellen Anleger geschaffen worden war. Die Kleinaktionäre würden davon nicht profitieren.
Dafür war die Industrie umso bestürzter. »Dies ist ein Schock. Niemand hat das erwartet«, klagte Judith Vincent, Sprecherin des britischen Industrieverbandes. Von einer »Portion Selbsttäuschung« sprach Sir Andrew Hugh Smith, der sichtlich betroffene Vorsitzende des Verwaltungsrates der Börse. Und er rügte damit indirekt vor allem den Projektmanager John Watson, dem das Unterfangen aus den Händen geglitten zu sein schien. »Wir haben Teile des Systems getestet, während andere noch nicht einmal entworfen oder entwickelt worden waren. Dies war nur der Projektzentrale bekannt«, schimpfte Hugh Smith.
Es war eine totale Blamage für eine Börse, die 1992 Rekordumsätze mit Wertpapieren gemacht hatte. 330 Milliarden Pfund waren hier an ausländischen Securities gehandelt worden. Regierungsbonds in Höhe von 1.238 Milliarden Pfund hatten den Besitzer gewechselt. An britischen und irischen Aktien waren 434 Milliarden Pfund umgesetzt worden. Aber diese gewaltigen Beträge & Leistungen zählten nun nicht mehr. »Wir sind jetzt der Spott Stock von Europa«, schimpfte Gordon Lindsay, Managing Direktor des Treuhand Fonds von Mercury Asset Management, dem größten Fondsanbieter auf der Insel, gegenüber der Financial Times. Die City sei in »tiefer Trauer« schrieb die Bonner Tageszeitung Die Welt.
Vor allem für den innersten Zirkel der City, für die Börse LSE, war es bitter. Statt mit dem Abrechnungssystem selbst Geld zu verdienen, sollte diese Aufgabe nun durch Outsourcing einer Clearing Bank übergeben werden. So lautete eine populäre Forderung. Wenn Bürokratien etwas verbockt haben, dann übergeben sie am liebsten das Problem an Dritte. Das sichert die Herrschaft und verschiebt die Verantwortung - und insgeheim hofft man vielleicht sogar darauf, dass auch die anderen versagen...
Im Falle des London Stock Exchange aber bedeutete es mehr: plötzlich stand die gesamte Organisation zu Disposition. Denn was bliebe der LSE dann noch an Macht, wenn man ihr die Verantwortung für die Datenverarbeitung gänzlich entreißen würde. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn man das Projekt einer neu gegründeten Firma übergeben hätte, die ihre Dienstleistungen dann in der City feilgeboten hätte. Diejenigen, die wirklich an Taurus interessiert waren, hätten es dann auch unterstützen können. Übrigens eine unter DV Leuten favorisierte Lösung.
Jobverlust für Programmierer. Verärgert waren vor allem die beteiligten Unternehmen aus Software & Service, die auf dieses Projekt, das eine Branche war, gesetzt hatten. »Wir, unsere Kunden und viele andere haben eine Menge Geld investiert. Das schmerzt«, stöhnte zum Beispiel Martin Dorset, Manager beim Softwarehaus Premier Systems. Es hatte allein 1,5 Millionen Pfund in Zusatzanwendungen hineingepumpt, die Taurus komplettieren und an die Banken & Broker verkauft werden sollten. Diese Vorleistungen konnte Premier Systems nun wohl abschreiben.
Die 220 Entwickler, die als Angestellte der LSE an dem Projekt gearbeitet hatten, waren ebenso ihren Job los wie jene 130 freien Mitarbeiter, die im Auftrag der Börse mitgewirkt hatten. Schlimmer noch: bei den Banken & Brokern hatten ebenfalls Hundertschaften daran gearbeitet, die firmeninternen Systeme mit Taurus zu verbinden.
Rettung für Bürokraten. Im Grundmurmeln, in den Vorstädten, bei den kleinen Leuten, war eher Erleichterung zu spüren. Klammheimliche Freude kam auf. Taurus hätte nämlich rund 3.000 Leuten in der City den Job gekostet. Dies hatte Hugh Smith bereits im Mai 1990 den Börsianern mitgeteilt. Das war natürlich ein Horror Szenario für die zu jener Zeit mal wieder rezessionsgeplagten Briten. Nach dem Big Bang hatten ohnehin schon viele Leute am Platz London ihren Job verloren. Zwischen 1989 und 1993 war die Zahl der Beschäftigten, die in der britischen Finanzwelt arbeiteten um 10,7 Prozent auf 2,8 Millionen gefallen, wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in einer im Juni 1993 vorgelegten Studie feststellte. Dies könne auf die zunehmende »Automatisierung zurück¬geführt werden«. Auf Computer war man allenthalben nicht gut zu sprechen. Kein Wunder, dass die Branchenlösung Taurus höchst umstritten war.
Vor allem aber hatte sich eine kleine Elite einer ersprießlichen Pfründe beraubt gesehen: die Registrare (ein Tätigkeitsbeschreibung, die heute bei Google nur noch im Zusammenhang mit der Vergabe von Internet-Domänen verstanden wird). Sie arbeiteten als hochspezialisierte Bürokraten, die bei der Abwicklung von Börsengeschäften so etwas wie das Katasteramt für Wertpapiere darstellten. Sie führten die Aktienregister der notierten Firmen eine langwierige und weitgehend manuelle Aufgabe, die im ersten Entwurf des Projektes (Taurus I) durch eine zentrale Datenbank erledigt werden sollte.
Es war der Versuch, ein zentrales Repositorium für den Aktienhandel zu errichten, und wahrscheinlich die einzige Chance, dieses Zusammenfügen zu bewerkstelligen.
Die Registrare hatten von Anfang an alle Register gegen das Projekt gezogen und 1989 war es ihnen endgültig gelungen, die Börse von jedweden Zentralisierungs Plänen abzubringen.
Natürlich wäre diese Datenbank gigantisch gewesen. Und die IT-Hersteller hätten sich gefreut über die vielen Gigabytes Plattenkapazität, die sie hätte verkaufen können. Jede der 250 großen Aktiengesellschaften, die damals an der LSE gehandelt wurden, würde hier mit ihren Zehntausenden, ja Hunderttausenden von Aktionären gespeichert sein. Dafür gab es kein Beispiel in der Welt.
Sicherlich wäre es ohne ein höchst fundiertes Datenmodell kaum zu leisten gewesen. Mit dessen Entwicklung wäre das Branchenwissen unweigerlich zur LSE rübergewandert. Aber die eigentliche Befürchtung der Registrare war nicht die Größe. Die war nur vorgeschoben. In Wahrheit ging es ihnen darum: Die Bürokratie der Stock Exchange würde eine zu große Macht bekommen. So würde die Überwachung der Dividendenzahlung an die Aktionäre, die ebenfalls ihre Aufgabe war, mit der Zeit ebenfalls von Taurus Managern übernommen. Ebenso würde ein Teil der Kommunikation mit den Aktionären an Taurus fallen.
Für Chairman Hugh Smith war das Scheitern der zentralen Datenbank durch den Einspruch der Registrare der Kardinalfehler, wenngleich er durchaus die Negativeinstellung dieser Berufsgruppe mit ihrer Sorge um Jobs und Einfluß verstand. Legendär sein Ausspruch: »Es war nicht überraschend Truthähne stimmen auch nicht für Weihnachten.« Dafür hatten ihn nun die Truthähne daran gehindert, tatsächlich als der »Reuters« in die Geschichte der Börse einzugehen.
Denn nun war auch das andere Konzept, das von verteilten Datenbanken ausging nennen wir es Taurus II gescheitert. Die Registrare konnten sicher sein, dass ihre Jobs vorerst nicht mehr zur Disposition standen.
Die zweite Lektion aus der Geschichte: Ein Superprojektmanager sollte niemals eine Aufgabe übernehmen, die das Schicksal einer ganzen Branche bestimmt und ihn abhängig macht von Bürokraten. Da aber alle Superprojekte genau dies auszeichnet, gibt es keine mehr.
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