Freitag, 18. Mai 2012

Teil VII: Das Projekt Taurus - Talismans Schicksal

Das Ende eines Monopols

Dabei hatte alles so gemütlich & genüsslich angefangen. Bereits Anfang der achtziger Jahre war den Börsianern klar gewesen, dass das gerade erst eingeführte Abrechnungssystem Talisman nach spätestens sieben Jahren völlig ausgereizt sein würde. Die City of London plante damals den Big Bang, mit dem der reine Wertpapierhandel einem völligen Reengineering unterzogen werden sollte. (Siehe Kasten: Der Big Bang)

Der Big Bang hatte zwar die LSE um etliche Teile ihrer Aufsichts‑Macht gebracht, aber sie dafür als neues Informa­tions­zentrum positioniert. Dafür stand SEAQ (Stock Exchange Automatic Quotation). Dafür sollte auch Taurus stehen. Doch mit dessen Scheitern war die London Stock Exchange in ihrer Position als elektronische Schaltzentrale der City empfindlich getroffen worden. Sie sah sich einmal mehr ihrer Rolle als Informationsmonopol beraubt.

Diese Entwicklung hatte sich 1992 noch an anderer Stelle bemerkbar gemacht. So betrieb die LSE bis dahin ein Informations­system namens TOPIC, das mit einem zeitlichen Vorsprung von 30 Minuten vor allen anderen Nachrichtenagenturen Berichte über Tagesumsätze und Wertpapierpreise sowie Pressemeldungen der notierten Firmen veröffentlichen durfte. Doch die Regierung hatte dieses Privileg 1992 beendet. Die Konsequenz: TOPIC sollte nun »outgesourct« werden. Die Schweizer Telekurs bekam im April 1993 den Zuschlag.[1] Outsourcing war damit ein Thema, das alle Informationsdienste der LSE treffen konnte ‑ vom SEAQ‑Nachfolger bis hin zu CREST, bei dem ebenfalls Auslagerung erwogen wird.

Das alles war bitter für die LSE, die mit SEAQ oder dessen Nachfolger bislang das Herzstück der Börse in seinen Händen hielt. Um dieses Handelssystem war sogar die City eine Zeitlang von den Konkurrenten beneidet worden. Mit ihm war der Handel »vom Börsenparkett in die Häuser der Banken und Broker« (Gernot Ernst, Leiter der Wertpapierbörse in Berlin) verlagert worden.[2] Hinter dessen Einführung, die in eine Zeit fiel, als die LSE noch im Vollbesitz ihrer formalen Autorität war, stand eine kollektive Anstrengung. So hatten einzelne Geldinstitute bis zu 100 Millionen Dollar dafür ausgegeben, ihren Front‑Office‑Bereich auf diesen elektronischen Handel auszurichten.[3]

Glück für Talisman. Im vollkommenen Gegensatz zu Taurus stand hinter SEAQ eine klassische Stichtag‑Umstellung, die sich nur durchführen läßt, wenn man seine Autorität voll ausspielen kann. Denn am 27. Oktober 1986 sollte der von allen erwartete Urknall stattfinden. SEAQ betraf indes ausschließlich den Front-Office‑Bereich. Nur der Handel mit Wertpapieren wurde voll elektronisiert. Im Back-Office‑Bereich jedoch, bei der Abrechnung der Transaktionen, war alles beim alten geblieben. Hier wurden die Geschäfte noch in aller Gemütlichkeit abgewickelt. Die Abrechnung war die Schwachstelle. Dessen Integration wurde deshalb als nächste Stufe sehnlichst herbeigewünscht ‑ zumindest von den großen Insti­tutionen. Schrieb 1988 das Wirtschaftsmagazin The Economist: »Eine Investmentbank mit einem fließenden und vereinigten Informa­tions‑System besitzt einen immensen Wettbewerbsvorteil.«[4] Taurus sollte dafür den Hintergrund bilden.

Denn überall in der Welt war den Börsianern bewusst, dass es so nicht weiter gehen konnte. So auch an der Wall Street. Berichtete 1987 Eugene Bedell, damals Vice President für Informationssysteme bei First Boston in New York: »Von den dreißiger bis zu den späten siebziger Jahren war [die Struktur] ziemlich stabil. Es gab nur graduelle Veränderungen. Nur das Volumen änderte sich, aber nicht die Produkte.« In den späten sechziger Jahren zeigte sich indes erstmals, dass »inadäquate Clearing‑Mechanismen und steigende Volumina« in der Abwicklung sogar den Handel zum Erliegen brachten. Man begann, heftig in DV‑Systeme zu investieren.[5] In Deutschland entstanden deshalb Anfang der siebziger Jahre die Börsendatenzentralen. So etwas kannten die Briten nicht. Sie hatten stattdessen Talisman. Erst 1979 eingeführt, war es zwar umständlich, aber bis zum Big Bang hatte es bestens funktioniert.

Nur zehnmal war bis dahin das System für mehr als drei Stunden ausgefallen. So waren in den ersten sieben Jahren seiner Existenz, bis zum Big Bang, rund 27,7 Milliarden Börsengeschäfte im Wert von 354,5 Milliarden Pfund reibungslos damit abgerechnet worden. Lediglich 18.000 Pfund hatte der London Stock Exchange für mangelhafte Abwicklung von Transaktionen als Entschädigung zahlen müssen.

Das war nichts angesichts der Summen, die täglich auf dem Spiel standen. Das System war stabil. Zum Glück. Denn eine zweite Umstellung zu einem Stichtag hätte den Platz London wohlmöglich überfordert.

Zwölf Schritte. Talisman hatte indes ein gewaltiges handicap: Maximal 15 sogenannte Jobbers, die späteren marketmakers, konnten an einem Wertpapier arbeiten. Das war zu wenig für eine Börse, die sich anschickte, mit dem Big Bang ins Massengeschäft einzusteigen. Mehr noch: die Regierung unter der Premierministerin Margaret Thatcher wollte die Privatisierung der Staatsbetriebe bis hin zu Gas‑ und Wasserwerken durchziehen und dabei vor allem kleinere Investoren als Aktionäre gewinnen. Ein Riesengeschäft wartete auf die Börse. Vorbei war es mit der Gemütlichkeit.

Hinter Talisman stand ein höchst umständliches, archaisches Verfahren, das sich in der zweihundertjährigen Geschichte der Londoner Börse breitgemacht hatte. Bei der Abwicklung der Transaktionen waren zwölf unterschiedliche Schritte zu beachten, in die mehrere Parteien involviert waren. Hier wurde Taylorismus pur praktiziert. Das System war schlichtweg zu klein und zu altertümlich, um den Zukunftssturm bewältigen zu können. Das hatten die Börsianer sehr richtig und sehr bald erkannt. Eine vorgangsorientierte Arbeitsweise musste her. Und die würde solche Spezialisten, wie es die Registrare waren, überflüssig machen.

Allerdings würde eine Modernisierung ein völliges Reengineering der Geschäftsprozesse und der Anwendungen zur Folge haben. Hinzu kam, dass neue Produkte wie SWAPS und diverse Derivate an den Weltmärkten angeboten wurden. Das Anwendungsspektrum von Taurus sollte deshalb wesentlich erweitert werden. So dachten die Börsianer bei dem Entwurf auch an Kapitalerhöhungen und Aktienemissionen, die über das System abgewickelt werden sollten. Das überfrachtete Taurus.

Deshalb war die Empfehlung gewesen: Es sollten für jeden Abrechnungs­typ ein unter­schiedlicher Batchlauf initialisiert werden, ohne dass dies zu unter­schiedlichen Preisen bei der Abrechnung von privaten oder ge­schäftlichen Käufern führen soll. Die institutionellen Anleger sollten aufzeigen, welchen Anteil an jedem Nominee‑Account sie je­weils hätten. Firmen sollten Agenten einstellen, die herausfinden, wer denn nun an wem mit welchen Summen beteiligt sei. Allerdings würden diese Daten dann nicht Außenseitern zur Verfügung stehen.

Kurzum: es war ein echtes Superprojekt. Das wollte wohl überlegt sein. Fünf Jahre lang brüteten die Börsianer unter dem Codenamen Taurus über einen neuen Ansatz.

Eins war dabei sicher: Talisman konnte auf Dauer nicht gerettet werden. Und noch eins war klar: am Softwaremarkt würden solche Systeme nicht von der Stange zu kaufen sein. Als eine »Dorfindustrie« kanzelte das Branchenblatt Euromoney die Programm‑Anbieter ab. Es musste also ein Eigengewächs sein - wie Talisman. [6]

Prinzip Repräsentation. So hatte seinerzeit hinter diesem Abrechnungssystem, das aus 67 Subsystemen mit insgesamt 750.000 Lines of Code geformt war, selbst ein formidables Superprojekt gestanden, wie es typisch war für die siebziger Jahre: Man nahm bestehende Abläufe und bildete sie akkurat in den Systemen ab. Es entsprach voll dem Prinzip Repräsentation, mit dem die Wirklichkeit in Programmen abgebildet wird. Es war nicht ausgerichtet auf eine neue Welt, in der permanent neue Börsen‑Produkte inszeniert wurden. Es war eine Vorstellungs-Welt, in der es keine Ungewissheit gab und keinen Zufall.

Doch nun dämmerte eine neue Zukunft auf. In einer flüchtigen Welt, des Auf & Abs von Kursen, der Deregulierung der Kapitalmärkte, der Wertpapier‑Innovationen, des Wettkampfs zwischen Börsen und ihrer Ausweitung ins Massengeschäft war einzig und allein Schnelligkeit Trumpf. Und die bürokratische Wirklichkeit, wie sie in dem System einbetoniert war, hinkte den Ereignissen immer rund zehn bis vierzehn Tage hinterher. Das war auf Dauer nicht tragbar.

Der globale Kapitalmarkt war Tag & Nacht geöffnet. Zielgerichtete, kurzfristige Aktion war alles. In diese neue Welt sollte der Big Bang hineinknallen. Durfte da die Abwicklung hinterherhinken? Natürlich nicht.

Privilegien versus Reengineering. So wurde ab 1988 energisch am Konzept Taurus gearbeitet, das zugleich auf ein Reengineering der Geschäftsprozesse zielte. Und schon war der Protest da. Privilegien mußten geschützt werden. Die Registrare hatten am Big Bang gesehen, wie die Jobber erbarmungslos der Konkurrenz ausgesetzt wurden. Mehr noch: die Banken hatten im Vorlauf des Big Bang begonnen, für viel Geld systematisch Brokerhäuser aufzukaufen. Es war endgültig vorbei mit der guten, alten Zeit. Es wurde ungemütlich. Und die freien Registrare ahnten, dass sie diejenigen sein würden, die Taurus auf die Hörner nehmen würde. Bankeigene Registrare würden schließlich ihr Geschäft an Land ziehen. Deshalb hatten sie Mitte der achtziger Jahre mit besonderem Nachdruck gegen den ursprünglichen Plan votiert, eine zentrale Datenbank zu errichten.

Ob sie es gewußt haben oder nicht ‑ damit diskriminierten sie die einzige zu diesem Zeitpunkt technologisch machbare Lösung. Solche Systeme ‑ das hatten die Fluggesellschaften mit ihren Reservierungssystemen gezeigt ‑ waren beherrschbar. Die Bedrohung war also real. Die Registrare gingen zum Gegenangriff über. Sie konnten dies gefahrlos tun, solange Talisman durchaus noch den Ansprüchen des Marktes genügte. Und das war bis 1986 auf jeden Fall so. Taurus befand sich noch voll in der Konzeptionsphase und bot damit genügend Angriffsfläche. Vielleicht ‑ so hoffte mancher Registrar insgeheim ‑ würde Talisman sich nach dem Big Bang besser bewähren als die Taurianer dachten.

Um das alte System auf den Big Bang vorzubereiten, mussten zwar 45 Module erneuert werden. Mit Müh' und Not hatten die Software‑Entwickler dies auch bis zum Stichtag geschafft, der so unaufschiebbar war wie die Olympischen Spiele. Ja, man schien sogar vorbereitet, selbst einen Ansturm von 50.000 komplexen Geschäftstransaktionen an einem Tag abzuwickeln.[7] Spätestens 1987 würde Taurus, dieses supermoderne Abrechnungssystem, in die Entwicklung gehen. Klar war aber dabei, dass es das Back‑Office des Börsensystem revolutionieren würde: Wertpapiere‑Zertifikate sollten nur noch in elektronischer Form in einer einzigen gigantischen Datenbank existent sein. Damit ging es weit über Talisman hinaus, bei dem lediglich während einiger der bürokratischen Vorgänge eine Aktie in immaterieller Form vorlag.

Die vierte Lektion aus der Geschicht: ein Superprojekt sollte niemals das Reengineering von Geschäftsprozessen zum Inhalt haben. Da aber kein Superprojekt ohne Reengineering gestartet werden kann, gibt es keine mehr.

TEIL I // TEIL II // TEIL III // TEIL IV // TEIL V // TEIL VI // TEIL VII //



[1] Wall Street Journal, 22.4.92: »London's stock exchange rethinks its role

[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.4.88, Gernot Ernst: »`Big Bang, little bangs und wir'«

[3] Euromoney, 7/87, Tony Shale: »Crisis in the back office«

[4] The Economist, 25.6.88: »Learning to manage ‑ A survey of the City of London«

[5] Euromoney, 7/87, Tony Shale: »Crisis in the back office«

[6] Euromoney, 7/87, Tony Shale: »Crisis in the back office«

[7] Financial Times, 12.8.86, Alan Cane: »Unsettled by Big Bang«

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