Autor: Raimund Vollmer
»Wenn die achtziger Jahre die Zeit der Medientycoons war, so sind die neunziger Jahre die Ära der selbsternannten Visionäre.« The Economist, 16. Oktober 1993
New York. Mittwoch.
13. Oktober 1993.
Es war der »Deal des Jahrhunderts« (Wall Street Journal). Doch
lediglich eine Handvoll Eingeweihter wusste davon. Selbst in Vier‑Augen‑Gesprächen
hatten die beiden höchsten Akteure, Raymond W. Smith und John C.
Malone, in den Wochen zuvor über ihre Firmen nur in [1]Codenamen
gesprochen. Nun wurde die TeleFusion publik: Ein multimedialer Koloss mit
einem gemeinsamen Vermögenswert von 60 Milliarden Dollar soll entstehen:
Der vornehme
Fernmelderiese Bell Atlantic mit dem Codenamen Shamrock
(Umsatz: 12,6 Milliarden Dollar) schluckt für einen Betrag zwischen 28 und 33
Milliarden Dollar
den größten und
wildesten amerikanischen Kabelfernsehbetreiber, die Tele‑Communications
Inc.(TCI). (Umsatz 3,6 Milliarden Dollar) aus Denver (Colorado). Deren Codename:
Ireland.[2]
Die Bedeutung dieses
gigantischen Zusammenschlusses, auf den sich zwei so unterschiedliche
Unternehmertypen wie Bell Atlantic‑Chef Smith und TCI‑Boß Malone
geeinigt hatten, werde größer sein als ihr gemeinsames Vermögen. So kommentierte
das britische Wirtschaftsmagazin The Economist das Jahrhundertereignis:
»Es verheißt letztlich eine Revolution in der Telekommunikation, die die
Welt verändern wird.«[3]
Und die Londoner Financial Times prophezeite, dass diese TeleFusion
eine »Menge Nachahmer bei den anderen Firmen des Fernmeldebereiches und der
Kabelfernsehbranche« finden werde.[4]
Das amerikanische
Wirtschaftsmagazin Fortune stieß ins selbe Horn und mutmaßte, dass jetzt
an den Börsen ein »Deal nach dem anderen« abgespult werde. Jeder sei
dabei von derselben »digitalen Dynamik« angetrieben, die auch Bell
Atlantic und TCI zusammengebracht habe.[5]
Business Week nannte den neuen Verbund die »kühnste Wette auf die
kommende Konvergenz von Computer, Kommunikation und Medien«. Die
Vereinigung dieser drei Technologiefelder bildet den Hintergrund für die Verschmelzung
von Unternehmen.[6] Aber sollte der Deal
tatsächlich Schule machen, dann wäre nicht die Computerindustrie der
Systemführer, sondern die Fernmeldebetreiber.
»Ziel all dieser
Aktivität ist, die integrierten Informationskonzerne des 21. Jahrhunderts zu
schaffen«, konstatierte griffig & richtig Konrad Seitz, deutscher
Botschafter in Italien und Mitglied der baden‑württembergischen
»Zukunftskommission 2000«.[7]
Anstatt aber nun daraus die Erkenntnis zu gewinnen, dass diese »integrierten
Informationskonzerne« schlichtweg die Allgegenwart der Technologie
voraussetzen und die wahre Schlacht um die Herrschaft über immaterielle Güter,
um die Inhalte, geführt wird, fällt Seitz wieder zurück in die Hochtechnologie‑Debatte,
die er selbst Anfang der neunziger Jahre initiiert hatte. »Wer auf die
Geschichte der europäischen Halbleiter‑, Computer‑ und
Unterhaltungselektronik, aber auch der Industrie der neuen Werkstoffe in den
achtziger Jahren zurückblickt, der blickt auf eine Geschichte ununterbrochenen
Rückzugs«, meint der Nationaltechnologe in der Hamburger Wochenzeitung Die
Zeit. Nicht falsch, aber das Drama dieses Rückzugs besteht darin, dass wir
unentwegt die Zukunft nachahmen, die andere uns vormachen. Wir betreiben immer
nur Aufholjagden, die stets in einer Subventionierung der Zukunft von gestern
endet.
Im Prinzip stagniert
unsere Diskussion auf dem Niveau der sechziger Jahre, als der französische
Publizist Jean‑Jacques Servan‑Schreiber in seinem Buch Die
amerikanische Herausforderung beschwor und vor ihrem Hintergrund die erste
große und teure Aufholjagd anregte. Sie überdeckte das eigentliche Dilemma: Wir
lassen uns auf keine Denkabenteuer ein. Herbert Henzler, Deutschland‑Chef
der Unternehmensberatung McKinsey, ist viel näher am eigentlichen
Kritikpunkt, wenn er deutschen Vorständen »mangelnde Visionen und unklare
Ziele« vorwirft.[8] Ihnen fehlt die Gabe, neue
Welten zu inszenieren, die vor allem den Platz anregen, der Zukunft stets am
schnellsten vorwegnimmt: die Börse.
[1] The
Economist, 16.10.93: »The tangled webs they wave«
[2]
Business Week, 25.10.93, Mark Landler, Bert
Ziegler, Mark Levy, Leah Nathins Spiro: »Bell‑Ringer«
[3] The
Economist, 16.10.93: »Make way for multimedia«
[4] Financial
Times, 14.10.93, Martin Dickson: »Bell ring for prophets of information age«
[5] Fortune,
15.11.93, John Huey/Andrew Kupfer: »What that merger means for you«
[6]
Business Week, 25.10.93, Mark Landler, Bert
Ziegler, Mark Levy, Leah Nathins Spiro: »Bell‑Ringer«
[7]
Die Zeit, 12.11.93, Konrad Seitz: »Rat für
die Zukunft«
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