»Vor zehn Jahren waren Fünf-Jahres-Projekte keine Seltenheit. Heute hat man kaum noch zwölf Monate Zeit. So flüchtig sind die Märkte.«
Von Raimund Vollmer
Nachspiel
London. Dienstag, 1. Februar 1994. Ein Kunde übernimmt die Börse. Michael Lawrence, Finanzchef der größten britischen Versicherungsgesellschaft, Prudential Corporation plc., ist nun Chief Executive Officer der London Stock Exchange (LSE). Dem Ort, an dem er in seinem früheren Job Kapital aufgenommen und investiert hatte, soll der 50jährige nun eine neue Bestimmung geben.[1] Eine schwierige Aufgabe. Denn die Börse wird von allen Seiten angegriffen. Neue, computergesteuerte Handelssysteme unterminieren die Autorität des Herrscher über den größten Finanzplatz in Europa, während die DV‑Systeme der LSE der Börse eine Schmach nach der anderen bereiteten. Kurzum: er muss ihr eine neue, glasklare Vision geben, die von allen verstanden wurde.
Doch so etwas braucht Zeit. Es ist die Herausforderung seines ersten Jahres. So hatte er jedenfalls am Donnerstag, 11. November 1993, bei seiner ersten Pressekonferenz erklärt. Und als die Journalisten ihn nach einer Konkretisierung seiner Sicht befragten, da handelte er wie wenige Monate zuvor der neue Chef eines anderen Unternehmens, Louis V. Gerstner von IBM, der ebenfalls zuvor Kundenfirmen geführt hatte: Lawrence stellte sich stur. »Ich weiß es nicht«, war die häufigste Antwort, die er nach Aussage der Londoner Financial Times gab.[2] Diese Formel benutzte er auch, als er nach der Zukunft des Börsenabrechnungssystems und anderer DV‑Dienste befragt wurde, die wenige Monate zuvor seinem Vorgänger den Kopf gekostet hatten...
LEKTION I
London. Donnerstag, 11. März 1993. In dem steil aufragenden Millionenbau aus Glas und Beton, Ecke Threadneedle Street und Old Broad Street, versammelte sich der Verwaltungsrat der ehrwürdigen London Stock Exchange (LSE) zu einer zweistündigen Krisensitzung. Zwei Namen beherrschten die Tagesordnung der Börsengemeinschaft: Rawlins und Taurus. Um 15.00 Uhr Ortszeit war es dann soweit. Hauptgeschäftsführer Peter Rawlins verkündete seinen Rücktritt. Und Taurus, dieses manpowerintensive Gigaprojekt, mit dem die Börse endlich ihr völlig veraltetes Abrechnungssystem elektronisieren wollte, wurde für gescheitert erklärt.
Mehr als zehn Jahre Arbeit waren umsonst. Entstandener Schaden für die City of London: rund eine Milliarde Mark. So eine Schätzung.[3]
Denn nicht nur die Börse hatte rund 75 Millionen Pfund investiert, sondern auch die inzwischen knapp 300 Banken & Broker am Ort, die ihre Rechnersysteme an das mit verteilten Datenbanken arbeitende Taurus anpassen mussten.[4] Doch das war nun alles vergebliche Liebesmüh gewesen.
Zuletzt verantwortlich für dieses Desaster war Peter Rawlin, ein 42 Jahre alter Wirtschaftsprüfer. Er war Ende 1989 mit dem Ziel angeheuert worden, die Börsensysteme gründlich zu erneuern und die ausufernde Börsenbürokratie zu bekämpfen. Letzteres war ihm vortrefflich gelungen. Von 3.000 Mitarbeitern, die beim Big Bang 1986 noch auf der Gehaltsliste des London Stock Exchange gestanden hatten, war die Zahl auf 1.155 Beschäftigte gesunken.[5] Allein 1992 hatte er die LSE‑Belegschaft um 627 Stellen reduziert. Er hatte das einstige Machtzentrum der City personell demontiert, nachdem es durch den Big Bang von 1986, der Deregulierung, immer mehr von seiner Autorität abgeben musste. Aber im IT‑Bereich schien er weniger Glück gehabt zu haben. Das war besonders bitter. Denn die LSE machte mit Informationsservices 101 ihrer insgesamt 194 Millionen Pfund Umsatz.[6] Die DV war der kritische Erfolgsfaktor der Börse, ihr letztes Reservat der Macht.
Doch Rawlins hatte eine Menge Leute im DV‑Department der Börse entweder gefeuert oder verloren. Nachdem er 1990 Manager entlassen und neue inthronisiert hatte, warf er diese ebenfalls hinaus. Seine Position wurde immer umstrittener. Im Juli 1992 brauchte er gar eine Sonderabstimmung des Boards, mit der er nach all den Angriffen noch einmal im Amt bestätigt wurde. Ein zweites Mal blieb ihm diese Zustimmung verwehrt. Er musste zurücktreten.
Das Peter‑Problem. Rawlins war 1989 von der Bank of England empfohlen worden, weil er angeblich hinreichende Erfahrung im Umgang mit DV‑Systemen besaß ‑ eine kostbare Seltenheit in derartigen Top‑Positionen. Als ein früherer Mitarbeiter der Wirtschaftsprüfung Arthur Andersen beherrschte er das computerunterstützte Controlling. Er hatte dann für den Versicherungsbroker Sturge Insurance gearbeitet. So wußte er, was Geldgeschäfte waren. Schließlich hatte er als Assistent für Ian Hay Davison gearbeitet, dem Geschäftsführer der Versicherungsgesellschaft Lloyds of London. Er war also vorstandsfähig ‑ bis zur Arroganz. »Peters Problem ist, dass er immer alles besser weiß«, kritisierte ihn ein nahestehender Broker aus der City. Und jeder weiß: Besserwisser sind der Sand im Getriebe jedes Projekts ‑ vor allem, wenn sie höchste Verwaltungsposten bekleiden. Sie warten zumeist genüßlich darauf, bis der Karren im Dreck ist, um dann verkünden zu können: »Ich habe bereits vorher gewarnt.«[7] Das ist die typische Attitüde eines Bürokraten, der sich immer im Recht wähnt.
Wohl aus dieser allzu großen Selbstsicherheit heraus hatte Rawlin zu spät dem Superprojekt Taurus seine ganze Aufmerksamkeit gewidmet. Er hatte zu einem Zeitpunkt zugepackt, als der Karren bereits im Dreck versunken war ‑ sechs Monate vor dem Aus. So der allgemeine Vorwurf in der City. [8]Deshalb mußte nun der Torero dran glauben und seinen gutdotierten Job aufgeben. Immerhin lagen seine Jahresbezüge 1992/93 bei 348.530 Pfund. Das waren 28 Prozent mehr als im Vorjahr. Der Hintergrund für diese Gehaltsexplosion: der erfolgreiche Abbau der Börsenbürokratie sollte ihm auf diese Weise honoriert werden. Die Abfindungssumme fiel hingegen eher mager aus. Es waren gerade mal 174.500 Pfund, ein halbes Jahressalär.[9] Dass die Börse damit recht getan hatte, sollte sie wenige Monate später erfahren, als ihr die unangenehmen Spätfolgen des allzu harschen Personalabbaus bewußt wurde. Wegen mangelnden Know‑hows konnte vier Stunden lang der Absturz des Börsenhandelssystems SEAQ nicht behoben werden. (Siehe Kasten: Crash statt Cash)
Mit Rawlins verkündete auch der im November 1988 angetretene Chairman des LSE, Sir Andrew Hugh Smith (61), dass er zurücktreten werde, sobald ein Nachfolger für den bisherigen Hauptgeschäftsführer gefunden worden sei.[10] (Im Juli 1994, wenn Lawrence halbwegs eingearbeitet ist, wird nun Hugh Smith in den Ruhestand treten.) Er zog damit die richtigen Konsequenzen aus seinem eigenen Versagen. Denn vor seinem Antritt 1988 hatte Hugh Smith erklärt, dass das wichtigste Projekt während seiner Amtszeit die Implementierung eines Abrechnungssystems sei. Nach dem Scheitern von Taurus mußte er sich gefallen lassen, dass er dafür nun zur Rechenschaft gezogen wurde.[11]
Immerhin war er, der von einem Stockbroker kam, prompt als der neue Reuters in der City gefeiert worden, der die Börse endgültig in das Zeitalter der elektronischen Informationen führen werde.[12] (Anmerkung: Der Deutsche Paul Julius Reuter hatte Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit seiner nach ihm benannten Nachrichtenagentur die Welt der Geschäftsnachrichten vom Platz London aus revolutioniert und den Grundstein für eine der erfolgreichsten Agenturen gelegt. Reuters genießt heute mit ihren DV‑Dienstleistungen weltweite Bedeutung in der Finanzwelt und gilt mit seinem außerbörslichen Handel als einer der stärksten Kontrahenten des LSE.)
Sir Hugh Smith hatte dem London Stock Exchange auf der Basis der natürlichen Autorität, die Informationen nun mal darstellen, jenen Einfluß zurückgeben wollen, den die Börse als formale Autorität durch die Deregulierung von Oktober 1986, den Big Bang, verloren hatte. Seit dieser Zeit oszillierte der LSE im öffentlichen Ansehen zwischen »einer Handelskammer, einer öffentlichen Verwaltung, einem Grundversorger und einer dynamischen, wettbewerbsintensiven Dienstleistung« (Financial Times). [13]
Nur die Informationsverarbeitung hätte den Stock Exchange aus dieser Identitätskrise herausführen können. Stattdessen vertiefte sie die Krise. Der LSE mußte für das Geschäftsjahr 1992/93 (31. März) einen Verlust in Höhe von 11,9 Millionen Pfund ausweisen, nachdem er im Vorjahr, das ebenfalls durch die Entwicklungskosten für Taurus hochbelastet war, noch 1,5 Millionen Pfund Gewinn verbucht hatte.[14] Doch 1992 war der Aufwand für das Abrechnungssystem auf 31 Millionen Dollar geradezu explodiert. Das waren acht Millionen Pfund mehr als im Vorjahr. [15]
Die erste Lektion aus der Geschichte:
Es ist höchst gefährlich für einen Topmanager, wenn sein Schicksal verbunden ist mit einem Superprojekt. Ob er sich darum kümmert oder nicht, er wird für jedes Versagen verantwortlich gemacht. Deshalb gibt es keine Superprojekte mehr.
[1] The Economist, 13.11.1993: »At last, a new face«
[2] Financial Times, 12.11.93: »Change at the stock exchange«
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.3.93: »Wut in der Londoner City über Börsenentscheidung«
[4] Financial Times, 11.3.93, Richard Waters: »UK may scrap shares computer«
[5] Wall Street Journal, 21.6.93: »U.K. exchange reports loss, cites Taurus system's cost«
[6] Financial Times, 22.4.93, Richard Waters: »Survival through a part‑exchange«
[7] Financial Times, 12.3.93, Robert Peston: »Stock Exchange chief failed to tame the bull«
[8] Financial Times, 19.3.93, Richard Waters/Alan Cane: »Sudden death of a runawy bull«
[9] Wall Street Journal, 21.6.93: »U.K. exchange reports loss, cites Taurus system's cost«
[10] Wall Street Journal, 22.4.92: »London's stock exchange rethinks its role«
[11] Wall Street Journal, 11.7.88, Peter Norman: »Nominee to head London exchange would focus on business activities«
[12] Financial Times, 9.7.88, Clive Wolman: »European challenge for Stock Exchange head«
[13] Financial Times, 6.2.89, Clive Wolman: »Taurus is a sign of troubled times to come«
[14] Financial Times, 20.6.93, Norman Cohen: »Stock exchange calls for regulator«
[15] Wall Street Journal, 21.6.93: »U.K. exchange reports loss, cites Taurus system's cost«
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