Samstag, 29. September 2012

Der Kampf der Jahrtausende (Teil 1)


Angriff auf die Zukunft

Kampf der Jahrtausende

Noch liegt der nächste Satz in der Zukunft. Schon ist er vorbei. Aber die Zukunft konnte er nicht festhalten. Niemand kann das. Denn in dem Augenblick, in dem wir sie ergreifen, verwandelt sie sich sofort in Gegenwart. Einen Augenblick später ist die Gegenwart bereits Vergangenheit. Es kann durchaus sein, dass sie irgendwann von dort wieder zurückkehrt – als Zukunft.

»Ich weiß genau, was die Zeit ist. Nur wenn ich darüber nachdenke, verwirrt sich mir der Sinn.«
Augustinus, Theologe und Philosoph (354-430)

1. Das Ende der Vergangenheit

Was wie ein nettes Gedankenspiel mit der Zeit klingt, könnte sich als das vielleicht lukrativste Geschäftsmodell des 21. Jahrhunderts erweisen. Für die Hersteller von Informationstechnologien, für die Neue Gesellschaft der Wissensarbeiter, für die gesamte Weltwirtschaft und für alle Natur- und Geisteswissenschaften. Und ein bisschen mehr Wachstum könnten nach dieser Phase der Abschwächung alle gut gebrauchen. Man muss nur ein bisschen Geduld mitbringen und die Bereitschaft, sich auf neue, auf den ersten Blick seltsam anmutende Gedanken einzulassen. Dann entfaltet sich dieses Geschäftsmodell ganz von allein. Ganz oben. Im Kopf. Dort, wo alles anfängt.
Entwickelt wurde es vor 25 Jahren von dem Computerphilosophen Vilèm Flusser. Damals führte er an seinem Wohn­ort Robion in der Provence ein intensives Gespräch über die Zukunft. Das war im Juli 1987. Lange her. Vergangen und vergessen. Doch dann, zehn Jahre nach Flussers Tod, erinnerte sich der Interviewpartner, Jörg Albrecht, an seine Tonbandaufzeichnungen. Er überarbeitete das Gespräch zu einem flüssigen Flusser-Text. Veröffentlicht wurde er zur Jahreswende 2001/02 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.[1]
Dieser Artikel war ein totaler Angriff auf die Zukunft. Denn er hatte nichts anderes im Sinn, als unser Verständnis von Zeit zu revolutionieren.
»Der Zentralpunkt der Zeit ist die Gegenwart«, ruft uns Flusser aus der Vergangenheit zu. Akzeptiert! Da sind wir ganz bei ihm. Dann setzt der Philosoph nach: »Überall, wo ich hinschaue, dort ist Zukunft.« Absurd! Meint der Meister des Medialen tatsächlich, dass er uns sehen kann – uns, die wir für ihn ja aus der Zukunft kommen?
Für Flusser gibt es gleichsam keine Vergangenheit mehr. Diese existiert nur noch als Gedächtnis. In dem Augenblick, in dem wir die Vergangenheit betrachten, also aus unserem Gedächtnis hervorholen, verwandelt sie sich sofort in unsere Gegenwart. Wir projizieren uns mit unseren Gedanken, Vorstellungen, Absichten in diese Vergangenheit hinein – und kreieren genau damit Zukunft. Das Gedächtnis liefert die Projektionen, aus denen die Zukunft gebaut wird.
Versuchen wir's also! Schaffen wir ein bisschen Zukunft. (Tipp: Schließen Sie jetzt die Tür! Denn es kann durchaus sein, dass Ihre Gedanken in den nächsten Minuten verrückt spielen.)
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[1] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, December 30, 2001, Vilém Flusser: »Die Gegenwart, die aus der Zukunft kommt« (Aufgezeichnet und bearbeitet von Jörg Albrecht)

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