Sonntag, 30. September 2012

Der Kampf der Jahrtausende (Teil 2)



»Die Informationen existieren ohne Ich. Das Wissen nicht.«

Botho Strauß, Schriftsteller[1]

2. Zeitmaschine Cyberspace

Zuerst einmal stürzen wir uns auf der Suche nach der Zukunft in die Gegenwart der Vergangenheit! Plötzlich sitzen wir in Robion zu Füßen des Philosophen, unseres virtuellen Zentralgehirns, und warten auf seinen nächsten Satz, seine nächste Wahrheit. »Ich befinde mich in der Gegenwart, umgeben von Zukünften«, schaut der Meister auf uns herab.
Aber eigentlich meint er weniger uns damit, sondern vielmehr die riesigen Gedächtnisspeicher, mit denen uns die Computer versorgen. Sie avancieren zu unserem Alter Ego, zu unserem zweiten Ich. Sie helfen uns, die »Kapsel des Subjektiven zu durchbrechen und uns als Knoten eines Relationsfeldes« zu verstehen. Also sprach Flusser.
Mächtige Speichersysteme erweitern unser eigenes Gedächtnis ins Unendliche. Sie halten alles Wissen der Welt abrufbereit. Flusser erzählt uns, ohne den Namen zu benutzen, vom Internet. In ihm ist und wird alles Zukunft – und zwar in dem Augenblick, in dem wir auf seine gewaltigen Datenressourcen zugreifen. Hier – in der Tiefe des Cyberspace – lebt auch Flusser weiter, hat er die Kapsel des Subjektiven durchbrochen. Hier sind fleißige Menschen damit beschäftigt, Flusser unentwegt neues Leben einzuhauchen. Sie kümmern sich – im doppelten Wortsinn – um sein elektronisches Gedächtnis, um sein Vermächtnis. 
Unermüdlich sorgen die Suchmaschinen dafür, dass uns alles Wissen aufs Neueste höchst individuell zusammengestellt wird. Die Suchmaschinen und Systeme des Wissensmanagements sind die automatisierten Zentralpunkte, die Produzenten der Gegenwart. Sie sind die wahren Zeitmaschinen des Cyberspace, die unentwegt weitverstreute Vergangenheit punktgenau in hochverdichtete Zukunft umwandeln.
Wenn wir zum Beispiel mit diesen Zeitmaschinen weitere 100 Jahre zurückreisen, dann landen wir bei dem Philosophen, der Flusser prägnant und hellseherisch vorweggenommen hat: »Die Geschichte redet immer neue Wahrheiten«, schrieb 1887 Friedrich Nietzsche in seinem Hauptwerk »Der Wille zur Macht«.[2]
Damit meint Nietzsche nicht nur das etablierte Geschäftsmodell der Historiker, die permanent neue Erkenntnisse aus überlieferten Dokumenten und Artefakten destillieren wollen. Der Philosoph adressiert vielmehr damit das Geschäftsmodell der gesamten Wissensgesellschaft, die im 21.Jahrhundert der vorherrschende Typus sein wird. Die Menschheit strebt zurück zu den Quellen ihrer eigenen Existenz und denen des Universums schlechthin. Indem sie dies tut, erfindet sie sich selbst immer wieder neu.
  • So macht sie sich auf, die bislang bestgehütete Erfolgsstory der Natur, den genetischen Code, vollständig zu entziffern und zu deuten. Mehr noch: Sie will ihn nicht nur clonen, sondern nach eigenem Willen programmieren und formen.
  • Sie wagt sich vor in subatomare Sphären, um endlich den Teilchen ihre 15 Milliarden Jahre alten Geheimnisse zu entlocken. Sie möchte das Kommando über die Welt der Atome übernehmen, ihnen befehlen, sich in die Dinge zu verwandeln, die sich die Märkte wünschen. So wollen wir die uralten Kräfte des Universums, die Gesetze der Physik, immer wieder neu konfigurieren.
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[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.1.1999, Botho Strauß: »Das letzte Jahrhundert des Menschen«
[2] Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1964, (Ersterscheinung 1887): »Der Wille zur Macht«

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