Samstag, 11. April 2009

Die 5.000.000.000-Dollar-Wette (Part 1)


Greenwich (Connecticut). Donnerstag, 28. Dezember 1961. Im Shera­ton New Englander Motel trafen sich 13 IBMer zum Ab­schluß‑Commu­ni­qué. 60 Tage lang hatten sie an dem Papier gear­bei­tet. Wen im­mer sie für ihre Arbeit brauchten, er stand ihnen mit all seinem Wissen zur Ver­fü­gung. Ihr Anführer war Don Spaul­ding, der Chief As­si­stant des allmächtigen Vincent T. Lear­son, seit 1959 als Vice President Herrscher über die wichtigsten Produktlinien der IBM. Nun waren die Er­geb­nisse dieser kollektiven Ar­beit niederge­schrie­ben: 80 Seiten umfaßte das Doku­ment. Das ganze Know­how der Company, ihr intellektuelles Kapital, war darin zusammengefaßt und in eine neue Per­spektive ge­setzt wor­den. Spaulding und seine zwölf Jünger hielten ein gran­dio­ses Kon­zept in der Hand. Der Name des Ma­sterplans lautete kurz & bündig: SPREAD.
Das stand offiziell für Sy­stems Programming Research and Deve­lop­ment. Inoffiziell aber wurden die sechs Buchstaben als Spaul­ding's Plan to Re­organize Each and All Di­vi­sions ent­schlüs­selt.[1] Das war es auch: nachdem IBM in den fünfziger Jahren unter großen Mü­hen den Sprung ins Elektronikzeitalter ge­schafft, sich 1959 erst­mals eine wirkliche Organisation gegeben hatte, war sie endlich so­weit, das gewaltigste und riskanteste Projekt in ihrer Geschichte anzugehen, bei dem sie ihre gesamten Ressourcen neu ausrichtete. Sie wollte ei­ne Computerserie entwickeln, die weltweit nach den­sel­ben Prinzi­pien gebaut und verkauft werden sollte, eine in sich kom­patible Rech­ner­familie, die alles ablösen sollte, was jetzt bei den Kunden installiert war. Der große Wurf sollte gewagt werden.
Dieser SPREAD‑Ausschuß beendete einen Streit, der seit Anfang 1960 in der Company tobte, immer neue Fraktionen hochge­spült hatte ‑ in­ner­halb und zwischen den einzelnen Divisions. Es ging um Tech­no­lo­gien & Produktabgrenzungen, um Prestige & Karrieren, um Markt & Mo­neten. Dahinter verbarg sich sogar ein regelrechter Bru­der­krieg. Thomas Watson Jun. mußte sich als Chief Executive der IBM Corp. gegen Arthur K. Wat­son durchsetzen, der die IBM World Trade wie ein eige­nes Königreich leitete. Zweimal schon hatte Bruder Arthur ver­geb­lich versucht, einen eigenen Computer für sein Imperium zu ent­wic­keln. Justa­ment hatte er einen dritten Versuch gestartet. Das Ziel hinter SPREAD war indes: keine Sonderwege mehr. Stattdessen galt die globale For­mel: »Alle für einen. Einer für alle.« Konzeptionell war die Sache entschieden. Aber würde sich der Genie­streich reali­sieren lassen? Den Beteiligten steckte noch das Stretch‑Fias­ko in den Knochen. Das war ein Super­computer gewesen, mit dessen Ent­wick­lung IBM 1955 be­gonnen hatte. Weder technisch noch wirt­schaftlich erfüllte er die Erwartungen. Deshalb hatte Thomas J. Wat­son wenige Monate zuvor, im Mai 1961, den Preis von 13,5 auf acht Mil­lionen Dollar kürzen müssen. Es war seine erste Amtshandlung als Chairman, zu dem ihn justament der Aufsichtsrat gewählt hatte. Insgesamt hatte das Unternehmen 20 Millionen Dollar bei dem Projekt ver­loren. Watson hat­te seine Leute nachdrücklich ge­warnt: »Wir müssen künf­tig bei un­se­ren Ver­spre­chun­gen erheblich sorgfältiger sein.«[2] Das be­deutete: vor allem die Pla­nun­gen mussten besser werden. Dies­mal durfte es keine Panne ge­ben. Das war der Schwur von Greenwich.
New York. Donnerstag, 4. Januar 1962. Eine Woche nach dem Treffen in Greenwich präsentierte das Team vor 50 Top Exe­cu­tives im da­ma­li­gen Hauptquartier der IBM in New York sei­nen gran­diosen Plan. Die Resonanz war verhalten. Aber es gab auch keine wich­tigen Gegen­ar­gu­mente. Nur eins bereitete den Managern sichtlich Sorgen: die Aus­gaben für die Software. Den Aufwand für ein »SPREAD­sheet« hatte das Spaulding‑Team vorsichtig mit 125 Millionen Dol­lar beziffert. Das lag deut­lich über jenen zehn Mil­lionen Dollar, die IBM sonst jähr­lich in Programme für alle Produktfamilien steckte. Die hohen Her­ren wieg­ten noch voller Bedenken mit ihren Köpfen. Hätten sie die volle Wahrheit gewusst, dann wäre das Projekt erst gar nicht ge­star­ter worden: eine halbe Millarde Dollar sollte nämlich der tatsächliche Preis der Supersoftware werden. Manchem steckte noch die Transformation aus den fünfziger Jahren in den Knochen.
Aber wozu ist eine großartige Or­ga­nisation da, wenn sie sich nicht auch an großartige Dinge her­an­wagt? Da ergriff schließ­lich Learson das Wort und erklärte kurz & knapp: »Okay, wir machen es!« Thomas Watson sah in die Runde. Ein Ent­schei­dungsträger nach dem anderen willigte ein, obwohl jeder erkannte, dass von nun an »alle unsere Ressourcen nur in einem ein­zi­gen Pro­jekt steckten ‑ und wir wussten, dass wir für eine ziem­lich lange Zeit aus unseren Investi­tio­nen nichts herausbekamen.«



Frankfurt. Freitag, 4. April 1964. Die Botschaft erreichte den jun­gen IBMer erst nach Büro­schluß. Als Peter L., 27 Jahre alt, an die­sem Abend daheim seine Post sichtete, tat sich ihm zwischen Bank­aus­zügen und Re­kla­mepost eine Wind­rose auf. Der an­son­sten als cle­ver & smart ein­geschätzte Vertriebsbeauftragte aus der Nieder­las­sung Frank­furt der IBM Deutsch­land GmbH war per­plex: die Postkarte enthielt außer seiner Ad­resse und dem roten Symbol keine weitere Message. Der IBM‑Nach­wuchsmann ver­dräng­te nach einigen Grübeleien diese scheinbar un­sin­nige Nach­­richt. Das Wochenende hatte be­gon­nen...
Frankfurt. Montag, 7. April 1964. Ein wenig verwundert wanderte an diesem Frühlingsmorgen Peter L. durch die Blu­menallee des Frankfurter Pal­mengartens. Zwi­schen den ge­raden er­blüh­­ten Oster­glocken und Tulpen des Früh­lings 1964 rag­ten rund 1000 strahlendweiße Papierwimpel empor, alle ebenfalls mit dem myste­riösen Zei­chen, mit dieser ge­heim­nisvollen Windrose, bedruckt.
Das Zeichen war Signal. An diesem Aprilmorgen sollte sich die Com­pu­terwelt gründlich verändern. Doch davon ahnten Peter L. und seine zweihundert in feierlichem Dunkelblau versammelten Kol­le­gen zu­nächst noch nichts. Nur eins war ihnen klar: den Tu­sche­leien und Flüsterparolen der vergangenen Monate sollte durch die Ankündi­gung eines neuen Computersystems ein Ende gesetzt wer­den. Was kam, war eine neue Rechnergeneration. IBM verkündete der völlig überraschten Computerwelt das Sy­stem /360. Das Datum war gut ge­wählt. Die Firma feierte gerade ihren 50. Geburtstag. Seit einem halben Jahr­hundert regierten Watson & Son. Ein Welt­im­pe­rium mit einem Umsatz von 3,239 Milliarden Dollar war ent­stan­den. An die­sem Tag sollte sich aber vor allem die Zukunft der nächsten Jahrzehnte entscheiden.
Es war das Jahr der Entscheidung, in dem Bob Dylan sein Lied »The times they are a changing« schrieb, die Beatles mit »A hard days night« ihr Filmdebut gaben und erstmals auf Welt­tournee gingen. Doch vor allem sollten sich die Zeiten im Com­puterge­schäft ändern, sollten zwei lange Jahre harte Arbeit mit einer Weltur­auf­führung belohnt werden.
Von dem, was kam, war Peter L. schlicht­weg faszi­niert. Für ihn klärten sich die letzten un­deutbaren In­halte der Windrose auf ‑ stilgerecht abgetönt durch das etwas ge­schrumpfte Orchester des Hessischen Rundfunks: hin­ter der heute bis zur Un­ver­ständ­lich­keit verkürzten Be­zeichnung Schrägstrich 360 verbarg sich der allum­fas­sende An­spruch der IBM, über alle 360 Längengrade hinweg, mit einer neu­en System­ge­ne­ra­tion Tausende von DV‑Benutzern glücklich zu ma­chen. Das »auf­win­dige« An­noun­cement, das gleich­zei­tig auf allen IBM‑Ba­sen rund um den Erdball abrollte, enthüllte die neue Phi­lo­so­phie, die von nun an das weltweite Wech­selspiel zwi­schen Markt und Technologie bestimmen sollte. Zwar war zunächst mehr Wind als Rose. Doch mit dem Wirbel um die neue Serie konnte die IBM vorerst all die Schwierigkeiten hin­weg­blasen, die durch die Schöpfung der dritten Generation dem Com­pu­ter‑Giganten erwuchsen und seinen Kreislauf wiederholt an­griffen. So wurde von der Geburt der Idee im Jahre 1961 bis hin zur Ankün­di­gung der Systemfamilie die Struktur des Weltkonzerns allein dreimal umgekrempelt.
Doch die größte Veränderung lag darin, daß mit dem Aufsetzen des SPREAD‑Plans bei IBM endlich die Technologen das Zepter in die Hand genommen hatten. So schrieb 1966 das amerikanische Wirt­schafts­ma­ga­zin For­tune: »Zum ersten Mal trat eine neue Gruppe von technisch orientierten Managern in den Vordergrund und zerstörten einiges von jener traditionellen Macht, die die Marketiers in der Firma hiel­ten.«[3] In der Folge sollten die sechziger Jahre die aufregendste und innovativste Dekade des Computings werden. Die junge Branche setzte zum Sprung ins 21. Jahrhundert an. Während einige For­scher bereits die Ankunft des Personal Computers prophezeiten, soll­ten die näch­sten zwei Jahr­zehnte jedoch vor allem einer Species ge­hö­ren: den Main­fra­mes, deren erster Erfolgstyp die /360 war.
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[1] Da­ta­mation, 15.5.84, Robert L. Patrick: »The seed of empire«
[2] Fortune, 9/66, T. Wise: »I.B.M.'s $5.000.000.000 Gamble«
[3] Fortune, 9/66, T. Wise: »I.B.M.'s $5.000.000.000 Gamb­le«