Montag, 13. April 2009

Die 5.000.000.000-Dollar-Wette (Part 3)

Die Väter der /360: Gene Amdahl, Frederic Brooks, Gerrit Blaauw
Zwischen 1965 und 1995 ‑ so stellte eine Untersuchung fest ‑ wurden mehr neue Informationen produziert als in den 5000 Jahren zuvor. Seitdem ist endgültig klar: Die Geistesmaterie dominiert längst die physische Welt. Von 1985 bis 1995 hat sich die Zahl der Minuten, die jährlich für Gespräche, Fax‑ und Datensendungen auf dem weltweiten Telekomnetz abgewickelt werden, von 15 auf 60 Milliarden vervierfacht. Im Jahr 2000 werden wir bereits 95 Milliarden Minuten telekommunikativ verbrauchen, wie eine Gemeinschaftsstudie von British Telecom/MCI ergab. Tatsächlich explodierte mit dem Internet das Kommunikationsvolumen in kaum mehr fassbare Volumina.
POP-Artist Amdahl
Kein Werkstoff wurde so gründlich erforscht wie Silizium, diesem Rohstoff aus reinem Sand, aus dem die Chips gefertigt werden. Erfahrungen im Umsatzwert von 1000 Milliarden Dollar wurden in den letzten 35 Jahren aus schnödem Sand gewonnen. Ebenso hoch sind die Investitionen, die Computeranwender in aller Welt seit 1964 in Software für Mainframes hineingesteckt haben. Als die /360 entwickelt wurde, befand sich dies alles noch in den Anfängen.
Gene Amdahl propagierte anfangs den sofortigen Sprung in eine mit integrierten Festkörper‑Schaltkreisen (ICs) ausgestattete Rechnerserie. Ein gewagtes Unterfangen. Denn die parallel 1958 von Jack Kilby bei Texas Instruments und von Robert C. Noyce bei Fairchild entwickelten ICs waren äußerst schwierig zu produzieren. Die Ausbeute betrug nur zehn Prozent der Produktion. Die besserte sich zwar, nachdem Noyce 1960 in dem von seinem Schweizer Kollegen Jean Hoerni entwickelten Planar‑Prozess ein geniales Herstellungsverfahren nutzen konnte, aber für den Masseneinsatz der Integrated Circuits in Computern war das noch keineswegs befriedigend. Weder Technologie noch Methodologie waren ausgereift. Zudem klang zu Beginn der sechziger Jahre gerade erst ein Streit aus, bei dem es um die Frage ging, ob nun Silizium oder Germanium der bessere Werkstoff war.
Deshalb hatte IBMs Chefwissenschaftler Emanuel Piore, den Watson Jun. 1956 von der Navy abgeheuert hatte, beschlossen, auf eine hybride Technik, die Solid Logic Technology (SLT), zu setzen. Die Schaltkreise wurden dabei auf halbzollgroße Keramikmodule aufgebracht. SLT versprach eine höhere Packungsdichte als bei Transistoren, war auch schneller und verbrauchte weniger Strom, aber von integrierten Schaltkreisen konnte noch nicht die Rede sein.
Diese Entscheidung, für die Big Blue Mitte der sechziger Jahre noch ausgelacht wurde, sollte sich als Glücksgriff erweisen. Denn IBM umging damit im Unterschied zu ihren Mitbewerbern die Kinderkrankheiten der neuen Chiptechnologie.
1952 war Gene Amdahl zu IBM gekommen und hatte hier an der Entwicklung der Röhrenrechner IBM 704 und 705 mitgewirkt. Es waren die ersten kommerziellen Rechner, die mit Kernspeichern ausgestattet wurden. Ein Jahr nach deren Ankündigung, 1955, verließ Amdahl die Company, um fünf Jahre später, 1960, wieder anzuheuern. Er wurde der »Vater der /360« (Watson über Amdahl). Als er mit deren Entwicklung begann, hatte Amdahl bereits 13 Jahre Erfahrung im Bau von Computern hinter sich. Er wusste, worauf es ankam. Und er akzeptierte Piores Argumente. Er stand über der Materie.
Amdahl formulierte das »Heiligtum«, die Principles of Operations, das Ordnungsprinzip. Es war eine »sehr komplexe und herausfordernde Aufgabe«, beschreibt Amdahl das Unterfangen. Es galt eine Rechnerfamilie zu konzipieren, in der das kleinste Mitglied nach denselben architektonischen Prinzipien operierte wie das größte System. Und dabei bestand durchaus die Möglichkeit, dass eine Leistungs‑Spannweite von 1 zu 600 überdeckt werden musste.[1]
Ein absolut visionärer Ansatz.
Erst 25 Jahre später, 1989, sollte IBM übrigens dieses Ziel erreichen. Die Principles of Operations waren ein Triumph des Computer Engineerings. Alle Entwickler mussten sich danach ausrichten. Nur der konzertierten Einhaltung dieser Grundsätze war es zu verdanken, dass sechs Prozessoren mit 19 unterschiedlichen Varianten gleichzeitig an verschiedenen Orten in den USA und in England entwickelt werden konnten. Hiermit wurde erstmals eine globale Plattform für Know‑how‑Transfer geschaffen, an die im Laufe der Jahre immer mehr Labors andocken konnten. Eine klare Speicherhierarchie wurde festgelegt. Hinzu kamen Entwicklungen bei Platten, Zeilendruckern, Bildschirmterminals sowie jede Menge Optionen und Features. IBM griff tief in das Schatzkästlein ihres intellektuellen Kapitals. Insgesamt mußten mehrere hundert Entwicklungsprojekte koordiniert werden. Das Ergebnis: Am Tag der Ankündigung wurden 131 technologische Errungenschaften der /360 zum Patent angemeldet.
Gute vier Jahre später, am 3. September 1968 wurden sie unter der Patentnummer 3.400.371 als einzigartig anerkannt.[2]
Die Blaauw‑Pause
Doch um die Leistung zu verstehen, muß man tiefer in die Entwicklungsgeschichte der /360 und deren Anfänge einsteigen. So groß die Autorität von Amdahl auch war, um seine Pläne durchsetzen zu können, mußte er zunächst seine stärksten Widersacher auf seine Seite ziehen. Zuerst und sehr früh gelang ihm dies bei Bob Evans.
Er war bis 1961 in der General Systems Division Manager (GSD) in Endicott (New Jersey) mitverantwortlich für die Entwicklung und Produktion der IBM 1401, jenem Transistorrechner, von dem IBM bis 1966 weltweit 10.000 Exemplare verkaufte. Die GSD war indes spinnefeind mit der Data Systems Division (DSD) in Poughkeepsie (New York). Die eigentlich auf technisch‑wissenschaftliche Rechner ausgerichtete DSD versuchte mit ihrem Starprodukt, der IBM 7090, immer häufiger der 1401 das Wasser abzugraben.
Doch Anfang 1961 war Evans Planungs‑ und Entwicklungschef der DSD geworden und wurde ein Verbündeter von Amdahl. Derweil hatte dieser es mit einem noch härteren Brocken zu tun: mit Gerrit Blaauw. Er war ein brillanter, aber eher konservativer Denker. Er hatte noch an der transistorgerüsteten Rechnerserie IBM 8000 gearbeitet, die ursprünglich die Riesenrechner vom Typ 7090 ersetzen sollte.
Und diese Blaupause verteidigte Blaauw gegen die Totalerneuerer um Gene Amdahl. Die beiden überwarfen sich. Amdahl war das Konzept hinter der 8000 nicht homogen genug. Zudem missfiel ihm, dass diese Serie nochmals auf Transistoren basieren sollte.
Es kam in den ersten Monaten 1961 zu heftigen Auseinandersetzungen, denen Evans am 15. Mai 1961 ein Ende setzte. Die 8000er Serie wurde begraben. Evans Urteil: »Nach meiner Meinung war die Maschine in vielerlei Hinsicht inadäquat.«[3] Er verwarf die 8000 vor allem deshalb, weil ihre Lebensspanne kaum über das Jahr 1968 hinaus dauern würde. Und IBM wollte unbegrenzte Zukunft verkaufen.
Damit war ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zum SPREAD‑Konzept aus dem Weg geräumt. Dieses Begräbnis bedeutete, dass IBM bei der Entwicklung der /360 ohne echte Ausweich‑Lösung dastand. Denn Learson hatte auch jegliche Erweiterungsarbeiten bei der 7000er Serie gestoppt. Er riß alle Brücken hinter sich ab. »Die Vorgänger‑Systeme waren längst an die Grenzen ihres Adressraumes und ihrer Speichermöglichkeiten angekommen. Es war klar, dass eine neue Technologie mehr Speicherplatz schaffen würde. Und die Kunden hatten unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie mehr Speicher wollen«, analysiert Case, der selbst an der Entwicklung der /360 mitgewirkt hatte, die Situation zu Beginn der sechziger Jahre.[4]
VIER MILLIONEN DOLLAR FÜR EIN MEGABYTE
Das technisch‑wissenschaftliche Größtsystem 7090 hatte maximal 128 Kilobytes Hauptspeicher, im Unterschied dazu bot die /360 einen realen Adreßraum von sensationellen 16 Megabytes. Das war potentiell 125mal mehr. Und mit diesem breiten Horizont erweckte IBM bei den Kunden den Eindruck, dass mit dem Umstieg auf /360 die Superlösung gefunden war, wenngleich bei einem Preis von vier Millionen Dollar pro Megabyte der Speicher nach wie vor sehr teuer war. 64 Millionen Dollar hätten bei einer voll ausgebauten /360 allein die Memories gekostet. Auch wenn keiner der Kunden diesen Adreßraum real ausnutzen konnte, so suggerierte ihnen dieses architektonische Potential eine unendlich groß wirkende Zukunft. Der Bruch mit der Vergangenheit war vollzogen. Blaauw wechselte das Lager. Er wurde »meine rechte Hand in Fragen der Architektur«, erinnert sich Amdahl.[5]
Die Sache war größer als das Ego der Beteiligten.
Brooks' Brocken
So bildete sich allmählich das /360‑Team, aber es war noch sehr stark hardware‑ und architekturlastig. Was fehlte, war der geniale Softwaremann. Diesen Part sollte Frederic Brooks übernehmen. Auch er hatte als Planungschef in Poughkeepsie für die 8000 gekämpft. Noch im März 1961 hatte er selbst vor dem Corporate Management‑Committee das Konzept dieses neuen Rechners präsentiert. Siegessicher war er aus der Sitzung herausgegangen.
Doch dann hatte er zwei Monate später den Tod seiner Serie erleben müssen. Er sah darin auch das Ende seiner Karriere. Als dann die /360 aufgesetzt wurde, machte ihn deren Planungschef Evans zu einem der wichtigsten Projektleiter. »Eine Entscheidung, die eine große Zahl von IBMern überraschte, inklusive Brooks«, kommentierte dies 1966 das Magazin Fortune. Unter Brooks Führungs sollte dann das Betriebssystem OS/360 entwickelt werden. Ein harter Brocken. »Ihm hatten wir vor allem zu verdanken, dass die /360‑Maschinen auch in der Praxis eingesetzt werden konnten«, würdigte Watson das Genie dieses Mannes.
Das Betriebssystem OS/360 ist übrigens der Urgroßvater des MVS , das zwischendurch unter dem Kürzel OS/390 wieder an seinen Ursprung anknüpfte, heute als Z-OS firmiert. Die Erfahrung, die Brooks bei diesem Projekt als Teamchef sammelte, sollte ihn später dazu animieren, das wohl beste Buch zu schreiben, das je über Softwareentwicklung publiziert wurde: »The Mythical Man Month«, das 1974 erschien.
Schon in der Vorzeit der /360 gab es Betriebssysteme. Seit 1953 hatten die Computerpioniere an den Universitäten und bei den Herstellern über die Entwicklung von Betriebssystemen nachgedacht, doch die bisherigen Ergebnisse waren allesamt rechnerspezifisch. Für den technisch‑wissenschaftlichen Rechner IBM 704, einer der stärksten seiner Zeit, gab es 1957 mehrere von den Anwendern selbstgestrickte Betriebssysteme.
IBM hingegen wollte ein einziges Operating System schaffen, das für mehrere Rechner mit derselben Architektur gültig war. Codierumfang: 3 Millionen Zeilen. Niemand hatte wirklich Erfahrung auf diesem Gebiet.
IBM wird 100: Ein Video aus Poughkeepsie

WATSON-MÄRCHEN: SO WURDE EIN BETRIEBSSYSTEM GESTRICKT
Mit welcher Naivität die Entwickler an dieses Unterfangen herangingen, soll folgende, erfundene Anekdote erzählen: Thomas Watson Jun. hatte im Forschungszentrum in Yorktown Heights rund tausend Programmierer in den größten Sitzungssaal geladen. Jeder hatte vor sich einen Bleistift und ein Blatt Papier. Dann sagte Watson nur ein einziges Befehls‑Wort: »Codiert!« Nachdem jeder der Programmier‑Knechte zehn Instruktionen niedergeschrieben hatte, sammelte der Firmenchef persönlich die Blätter ein. Die Loseblattsammlung schickte er dann in die Arbeitsvorbereitung, wo die 10.000 Instruktionen auf Lochkarten erfasst wurden. Anschließend wurden sie in den Prototyp einer /360 eingegeben.
Auf diese Weise soll das erste Betriebssystem der neuen Rechnerserie auf die Welt gekommen sein ‑ mit den Mitteln der Massenproduktion.[6]
Was die Anekdote sagen will: Als viel zu einfach hatte sich IBM die Entwicklung der Systemsoftware für die /360 vorgestellt. So war es kein Wunder, dass sich die Entwicklung des Betriebssystems als »ein absoluter Weichmacher im knallharten Konzept« (Reiboldt/Vollmer: Der Markt sind wir) erweisen sollte.
Allein die Entwicklung des OS/360 verbrauchte zwischen 1963 und 1966 etwa 5.000 Mannjahre. Dabei war spätestens ab 1965 klar, dass die Implementierung eines einzigen Betriebssystems für alle Rechner nicht gelingen konnte. Kurzerhand eliminierte IBM 35 der ursprünglichen Anforderungen, und sie splittete das Einheits‑Angebot. Heraus kamen im Laufe der sechziger Jahre insgesamt vier strategische Betriebssysteme, die nur eins gemeinsam hatten: ihren Ursprung in der /360‑Architektur. Das Investment dahinter war so groß, dass IBM fortan der Sklave dieser Architektur wurde.
Quellen
[1] Computerworld, 24.4.89, Patrick Waurznyak: »The men behind the machine« [2] Datamation, 5/84, Robert L. Patrick: »The seed of empire« [3] Computerworld, 24.4.89, Patrick Waurznyak: »The men behind the machine« [4] Computerworld, 3.11.86, James Connolly, Jeffrey Beeler: »The price of success: IBM /370 system won`t die« [5] Computerworld, 24.4.1989, Patrick Waurznyak: »The men behind the machine« [6] The IBM User, 11/81; »The 360 was born with two rival operating systems. IBM users are still paying the price«

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