Sonntag, 12. April 2009

Die 5.000.000.000-Dollar-Wette (Part 2)

Größer als das Manhattan-Project
Um die Größe und Grandiosität dieser Ankündigung zu ver­stehen, muß man die Hintergründe durchleuchten, die zu die­sem spek­takulären Ereignis führten. Warum zum Beispiel hatten sich da­mals, im Januar 1961, bei der Sitzung des Topmanagements, die Tech­no­logen durch­set­zen können? Wieso hatte das Topmanagement seine Zu­stim­­mung zu ei­nem Projekt erteilt, bei dem die Firma ihre gesamte Exi­stenz aufs Spiel setzte? Antwort: IBM befand sich in einem tech­no­lo­gi­schen Rückstand. Ihre Produktlinien waren zur Jah­res­wende 1961/62 ausge­reizt und ihre Patente nichts mehr wert.
Die Firma hatte sich in den fünfziger Jahren daran gewöhnt, mit Wachs­tums­raten von mehr als 20 Prozent zu leben. Sie hatte 1957 erstmals eine Milliarde Dollar umgesetzt. Doch seit 1958 hatte sich das Wachs­tum verlangsamt. So waren die Umsätze 1958 nur um 17,1 Prozent und in 1959 um magere 11,8 Prozent geklettert. 1960 war das Wachstum sogar knapp unter die Schwelle von zehn Prozent gerutscht. Der einzige Licht­blick: 1961 legte die Firma wieder ein Plus von 18 Prozent zu.[1] Aber war das ge­nug für eine Firma, die zuvor alle vier Jahre ihre Um­sätze ver­dop­pelt hatte? Wohl kaum. Sie spürte, daß ihre bislang sorg­sam gehüteten Markt­anteile bedroht waren.
Neue Wettbewerber wie die Control Data Corp., Radio Cor­poration of America oder Ho­ney­well tra­ten auf, wäh­rend sich die alten Kon­tra­hen­ten durch Aufkäufe vergrößerten. Mehr noch: die Kon­kurrenz be­gann, das Geschäft mit kompatiblen Rechnern zu entdec­ken, um so der IBM die Kunden abspenstig zu machen. Wut staute sich auf, aber auch Mut. Und beides hatte seinen Ursprung in der Ver­gangenheit.
Trommeln der Macht. 1953 hatte IBM mit dem Magnetic Drum Cal­culator Type 650 einen speicherprogrammierten Röhren‑Rechner vorgestellt, der etwa soviel Computerpower besaß wie ein Videorekorder. Es war die erste Maschine, die eine Magnet­trom­mel als Haupt­spei­cher benutzte ‑ und sie gehörte damit in jener Zeit zur absoluten Avant­garde. Diesen Vorsprung ließ sich IBM gut bezahlen. Die Mo­nats­­miete betrug 3250 Dollar, was nach heutigem Geld etwa der Summe von 18.000 Dollar entspricht. Die Marketiers hatten ausgerech­net, dass die Firma mit einem kleinen Gewinn herauskommen würde, wenn es ihr gelang, wenigstens 50 Magnet­trommeln zu vermieten. Ein Vermögen würde indes die Gesell­schaft er­wirtschaften, wenn sie gar 250 Ma­schi­nen an den Mann zu brächte. Doch es kam viel besser: »Als die Maschine 1962 vom Markt zurück­ge­zo­gen wurde, waren mehrere Tausend die­ser Rechner verkauft worden. So wurde diese primitive Ma­schine der erste massen­pro­du­zierte Rech­ner der Welt«, erinnerte 1994 das Wirtschaftsmagazin The Economist an diese Novität.
Es lohnte sich also, Mut zu haben. Wütend waren Watson und sein Gefolge geworden, als Ende der fünfziger Jahre der Erzrivale Univac mit seinem Tran­­si­stor­rechner Univac 80 genau gegen diesen Magnet­trom­melrechner zu Felde zog und kräftig abstaubte.
Schon zu Hollerith‑Zeiten hatte die Firma erleben müssen, daß immer dann, wenn sich ein Technologiewechsel ab­zeichnete, die Wettbe­wer­ber ihre Riesenchance sahen. In einer solchen Lage war IBM jetzt wieder. Sie musste sich durch einen Befreiungsschlag aus die­sem Di­lem­ma befreien ‑ und sich diesmal an die Spitze der Revo­lu­tion stel­len. Seine Erfahrungen aus den fünfziger Jahren hatten Watson Mut gemacht, ein solches Unterfangen nun im ganz großen Stil zu wagen.
Die einzige Chance, die Brut der Wettbewerber hinter sich zu las­sen, bestand da­rin, viel Geld an­zu­fassen, einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit zu wagen und sich durch eine Vielzahl von In­no­va­tio­nen mit deutlichem Vorsprung vom Wettbewerb abzusetzen ‑ und zwar auf weltweiter Basis. Auf all das hatte der 50jährige Vi­ce Pre­­sident T. Vincent (Vin) Lear­son seinen Chef nachdrücklich auf­merk­sam gemacht. Nur eine »New Product Line (NPL)« könne IBM aus dem Dilem­ma be­frei­en. Watson spür­te selbst »den Druck des Marktes«. Er ahn­te, dass er alles auf eine Kar­­te set­zen musste. Die La­ge war brenz­lig. Aber er war Vaters Sohn, und er wollte der Welt zeigen, dass er ebenfalls ein guter Unternehmer war.[2]
Manhattan‑Project. So startete IBM zur Jahreswende 1961/62 in ihr aufregendstes Abenteuer, das von der Öffentlichkeit alsbald in Su­per­lativen gefeiert wurde. »Es war die größte industrielle Inve­sti­tion, die jemals in der In­du­strie­geschichte von einem Privat­un­ter­nehmen aufgebracht wurde. IBM wandte für die Zeugung dieser einen Se­rie fünf Mil­liar­den Dol­lar auf. Das entsprach 1966 den gesamten Ein­­nah­men aller Compu­ter­her­steller der Welt«, staunte 1970 der Spie­­gel‑Journalist Kurt Blauhorn in seinem Buch »Erdteil zweiter Klasse ‑ Europas technologische Lüc­ke«.[3] In der Tat ‑ rund 4,5 Mil­­liarden Dollar Ka­pi­talin­ve­sti­tio­nen für Fabriken, Ausrüstung und Miet­ma­schi­nen hatte IBM im Umfeld der /360‑Ankün­di­gung aufge­bracht. Hinzu kamen weitere 750 Millionen Dollar für die technische Ent­wicklung. Zum Ver­gleich: Für ENIAC, für den ersten praxiserprobten Röhren­rechner der USA, waren bis zu sei­ner In­be­trieb­nahme 1946 Entwicklungsgelder von insgesamt 600.000 Dollar ge­flos­sen.[4] Noch ein Vergleich: als 1965 die Firma Boeing Company mit der Ent­wicklung des Jum­bos begann, sollte sie für die dann 1969 vorgestellte Boeing 747 rund eine Mil­liarde Dollar inve­stie­ren. Der französische Starpublizist Jean‑Jac­ques Ser­van‑Schrei­ber staun­te 1967 in seinem Best­seller »Die amerika­nische Her­aus­for­de­rung« über IBMs Auf­wand, den er in jenen Kategorien sah, in die eigent­lich nur noch der mo­derne Staat dachte: »Das entspricht der jähr­li­chen Gesamt­investition der Ver­einigten Staa­ten, die Re­gie­rungs­gel­der einbe­griffen, für Raum­for­schung.« Zum Vergleich: Das Manhat­tan‑Project, das nach dem japanischen An­griff auf Pearl Har­bor am 7. De­zember 1941 der da­ma­lige US‑Prä­si­dent Franklin Roose­velt als ge­heime Operation ge­star­tet hatte und im August 1945 zum Abwurf der Atombombe auf Hiroshima führte, hatte 2,5 Mil­liar­den Dollar geko­stet und die USA zur ersten Nu­klear­macht emporsteigen lassen. 150.000 Menschen hatten auf dem Höhepunkt der Arbeiten am Manhat­tan‑Project mitgewirkt, das in Los Ala­mos sein Zen­trum hatte.
Brain drain. »Nahezu jeder, der in der amerikanischen Physik Rang und Namen hatte, war damals in diesem Labor be­schäf­tigt«, er­in­nerte 1994 die Frankfurter Allgemeine Zeitung an das gigantische Unter­fan­gen, bei dem der Staat die technische Intelligenz aus aller Welt in seinen Forschungszentren versammelte.[5] IBM, die schon in den dreißiger Jahren in mehr als 70 Ländern der Er­de prä­sent war, konnte auf eine Ingenieurs‑Elite zu­rück­greifen, wie sie vielleicht nicht einmal den mächtigsten Nationen zur Verfü­gung stand. Ihre Techno‑Offensive er­reichte mit der Vor­be­reitung und Ver­mark­tung der /360 einen solchen Druck, daß ihr Mit­bewerber vorwarfen, Ingenieurs‑Intelligenz zu monopo­li­sie­ren. Ser­van‑Schrei­ber be­hauptet, das »IBM ihren Konkurrenten die besten Spezialisten zu wahren Gold­preisen« abgekauft habe. Ein bitterer Vorwurf. Denn die gesamte Kon­kur­renz buhlte weltweit um die­se Intelligenz‑Res­sour­ce, die un­glaub­lich viel zum Wohlstand und zur techno­lo­gischen Über­le­gen­heit der USA beigetragen hatte. Der brain drain Richtung Neue Welt erreichte damals seinen Hö­he­punkt.
Hatte der Krieg beim Manhattan Pro­ject Physiker und Mathe­ma­tiker vornehmlich aus Ungarn, Österreich und Deutschland in die USA ver­trie­ben, so war es jetzt die Macht der Dollars, die das human ca­pi­tal nach Nordamerika lockte. Das Wirt­schafts­magazin Busi­ness Week stellte im September 1967 fest, dass allein zwi­schen 1956 und 1966 insgesamt 9875 Wissenschaftler & Techniker aus dem Aus­land in die USA gekommen waren, ein starkes Drittel davon aus Euro­pa. Kurz­um: das kurze 20. Jahrhundert fand in den USA statt. Und IBM wollte das stolze Vor­zeige‑Unternehmen dieser Ära wer­den.
Fürchterliches Desaster. Mit unglaublichem Mut ging sie an ihr /360‑Werk. Die Investitionen waren so hoch, dass IBM ‑ würde das Experiment miss­lingen ‑ wohl dem Niedergang geweiht gewesen wäre. Es war das »$5.000.000.000 Gamb­le«, wie Fortune im September 1966 titelte. Es war die »ris­kan­teste Ge­schäfts­ent­scheidung«, die bis dahin ein Un­ternehmen gefällt hat­te. Nicht etwa wegen der hohen Zahlungsverpflichtungen, die zwi­schen 1961 und 1967 von 150 Mil­lionen Dollar auf satte 1,16 Mil­li­ar­den Dollar hochschnellten, sondern weil sie praktisch ohne Fall‑Back‑Lösung in das Aben­teuer ge­startet war. Mehr noch: als sie im April 1964 die Rechnerserie voreilig ankündigte, war noch gar nicht sicher, ob diese überhaupt jemals ausgeliefert werden konnte.
Sei­ne Be­gründung: Kein Staat der Erde würde auf Dauer akzeptieren, daß ein multinationales Unternehmen in der Grö­ßen­ordnung der IBM jähr­lich um zehn bis 20 Prozent wächst, während die Volks­wirt­schaften der großen Indu­strie­nationen sich mit einer Rate von zwei Pro­zent be­gnü­gen müßten. Zu diesem Zeitpunkt erreichte IBMs Weltumsatz um­ge­rechnet zehn Prozent des Brutto­so­zial­pro­duk­tes des Vereinigten Kö­nigreichs.
In Frankreich machten sich ein Jahr später, 1979, die beiden Spit­zen­beamten Simon Nora und Alain Minc auf, in ihrer Best­seller‑Stu­die »Die In­formatisierung der Gesellschaft« die Eu­ro­päer zum Ge­gen­angriff aufzurufen. »Die Politik muss vor allem die neuartige Her­ausforderung durch IBM berücksichtigen: Gestern noch Rechner­her­steller, morgen Betreiber von Nachrichtennetzen verfolgt dieses Un­ter­nehmen eine Strategie, die es in die Lage versetzt, ein Nach­rich­ten­netz zu errichten und zu kontrollieren. Es greift damit in ei­ne Sphäre ein, die traditionell eine Staatsdomäne ist.«
Des­halb rie­ten die beiden Autoren dazu, eine internationale »Allianz der Fern­mel­de­gesellschaften« gegen IBM aufzubauen. Kurzum: im Ansehen der Po­li­tik war Big Blue so stark, dass sie die Souveränität und Le­gi­ti­ma­tion der Nationalstaaten gefährdet sa­hen.
Vision impossible. Doch ihre Sorge war unbegründet. Denn zu diesem Zeitpunkt stand längst kein Watson mehr an der Spitze des Unter­nehmens. Nach einem Herzanfall war der Junior 1971 abgetreten. Die Watson‑Ära war zu Ende. Von den Nachfolgern war nie­mand be­reit, noch einmal wegen einer technologischen Herausforderung die ge­samte Company aufs Spiel zu setzen.
Dabei hatte IBMs Wissenselite in den Labors längst ein Modell ent­wickelt, das weit­ge­hend dem ent­sprach, was heute Network Centric Computing heißt. Ziel war es, das papierlose Büro zu schaffen, von dem die Technologen der Company spätestens seit 1964 träumten. Die vernetzte Welt war eine ebenso naheliegende, wie gigantische Vi­sion. Zum einen mußte man nur auf Zeichnungen der Telefonnetze schauen, um zu erkennen, daß sie im Großen jene Strukturen abbil­de­ten, die im Kleinen durchaus de­nen der Computer ähnelten. Die Schalt­­­bilder der Chips und die der Telekomnetze, mit deren Elek­tro­nisierung justament begonnen wurde, unterschieden sich optisch le­diglich in den Dimen­sio­nen. Man brauchte nur eine schnel­­le Verbindung zwischen den Rechnern, um sie genau so einzu­we­ben wie das Telefon ins Fern­mel­denetz. Die Telekom­gesellschaf­ten verhin­der­ten jedoch mit ihren hohen Preisen für Datenübertragung den Aufbau eines solchen Net­work‑Computings. IBM mußte des­halb in das Tele­kom­muni­ka­tions­ge­schäft eindringen, was sie auch ‑ zumindest in den USA ‑ Mitte der siebziger Jahre mit dem Aufbau der Satellite Business Systems tat. Aber es war nur ein halbherziger Versuch.
Um ihre Idee zum Durch­bruch zu bringen, hätte sie es ‑ wie bei der /360 ‑ in einem welt­weiten Maßstab wagen müssen und dabei nicht nur die Datenkommunikation, sondern auch den Sprachverkehr anvisieren müssen. Doch sie traute sich nicht, die Fernmel­de­ge­sell­schaften mit ihren staatlich garantierten Monopolrechten herauszufordern. Die Te­le­­koms ge­hörten au­ßerdem zu ihren größten Kunden. Einen derar­ti­gen An­griff durch die mächtigste Computerfirma der Welt auf ihre wich­tig­sten Geld­quel­­len hätten die Regie­rungen nie zugelassen. So muss­te sich das Network Computing auf eine andere, klammheimliche und höchst anonyme Weise durchsetzen ‑ durch das In­ter­net. Es leg­te eine ganz andere Spur. Es tat das, wogegen letztlich jeder Staat machtlos ist: es plante sich plötzlich selbst. Anarchisch, chao­tisch, spontan.
Diese Methode war sowohl der IBM als auch ihren staat­lichen Wi­der­sachern fremd, obwohl 1961 der Klimaforscher Edward Lorenz die Chaostheorie an einem Computermodell des Wetters bereits ex­em­pli­fiziert hatte. Und hätte Big Blue in ihre eigene Ge­schich­te hineingeschaut, dann hätte sie gesehen, dass bei aller kol­lektiven Ge­nialität der Technologen und der Marketiers der Erfolg nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt planbar ist. Irgendwann ge­winnt der Erfolg den Erfolg aus sich selbst. Er managt sich von al­lein.
Auf je­den Fall hat­ten Big Blues Tech­no­strategen Mitte der siebziger Jahre den nächsten großen Schritt voll im Visier. Aber er wurde ab­ge­würgt. Das Mana­ge­ment des Multis zog nicht mit. Es hatte sich dem Co­dex des späten 20. Jahrhunderts verpflichtet: es wollte über­all als good citizen gel­ten, als bra­ver, biede­rer und an­ge­passter Bür­­ger. Der Ölpreisschock von 1973, der die ganze Welt überraschte und auf die Grenzen des Wachstums hinwies, hatte die revolutionären Kräf­te erlahmen lassen. Es herrschte Restauration.
Watsons Nachfolger Frank T. Ca­ry dachte nur noch in busi­ness ca­ses, in klei­nen über­schau­ba­ren Projekten, die einen schnellen Return on In­vest­ment brach­ten. Das war die neue po­litical cor­rectness, der alle IBMer treublau folgten. An mil­liar­den­schwe­ren, langwie­ri­gen und ris­kan­­ten Projekten war Cary nicht interessiert. Er war kein Watson, der ak­zeptieren konnte, dass Tech­no­logen mitunter intelligenter sind als Manager. Watson wuss­te, wie man mit Primadonnas umging und Zauderer »mutiviert«. Cary & Co. hingegen haben die Superstars entweder vergrault oder ein­fach in Labors ver­kümmern lassen. Die IBM der kleinen Schritte war ge­bo­ren.
Der brain drain, der zu­vor in Richtung Big Blue gezogen war, wech­sel­te zu den Wettbewer­bern. IBM verlor in der Folge ihren Rhythmus, der sie so groß und mäch­tig hatte werden las­sen.
Ohne natürliche Autorität. Sowohl Watson I. als auch Watson II. ha­ben jeweils eine Latenzzeit von zehn Jahren benötigt, bevor sie ih­re ganze un­ternehmerische Stär­­ke ausspielten. Beim Senior war es die Phase von 1914 bis 1924 gewesen. Beim Junior war es der Zeit­raum von 1946 bis 1956 gewe­sen. In dieser Zeit waren beide nach au­ßen hin eher unauffällig ge­we­sen. Sie hatten sich internen Her­aus­­forderungen gestellt wie der Kon­zen­­tration auf das Tabel­lier­ma­schi­nengeschäft (Watson Sen.) in den zwan­ziger Jahren oder der Um­stel­lung auf die Elektronik (Watson Jun.) in den fünfziger Jah­ren.
Dann aber hatten sie aufgedreht und ihre aus der internen Transfor­mation gewonnene Power voll auf den Markt gerichtet. Mitte der siebziger Jahre hätte IBM eben­­falls an den Aufbau einer solchen neuen Au­­to­ri­tät denken müs­sen. Und in der Tat wurde sie Mitte der acht­ziger Jah­re in der Per­son von John Akers sichtbar. 1985 wurde er Chief Exe­cu­tive, ein Jahr später ihr Chairman. Aber er war ein va­ter­loser Watson, eine Kopfgeburt. Kein Un­ter­nehmer vom Schlage des extra­va­ganten Char­les Flint oder des patriarchalischen Watson Se­nior stand wäh­rend der Aufbau­zeit hin­ter ihm. So konnte Akers Mitte der sieb­ziger Jahre nicht die nächste Transformation der Com­pany ein­leiten,
- die sich mental auf den Service‑Gedanken hätte zu­rück­be­sinnen und
- tech­nologisch voll auf die vernetzte Welt kon­zen­trieren müssen.
Das sind die beiden Punkte, die heute, in der Ära von Lou Gerst­­ner den Aktienkurs der IBM wieder explodieren lassen. Aber im Prin­zip knüpft die Firma heute da an, wo sie bereits 1985 hätte sein müs­sen. Nicht, daß ihre Ex‑Partner Intel und Micro­soft in der Börsenkapitalisierung an Big Blue vorbei­ge­schossen sind, hat sich die Gesellschaft vorzuwerfen, sondern dass sie ihre eigene revolutionäre Ge­schich­te nicht weiter geschrieben hat.
Die alte IBM stümperte nur herum und dach­te in Produkten und Pro­duktion, in Ziegel und Mörtel ‑ und Akers trat nicht gegen das herrschende Weltbild an, was die Watsons beide getan haben. Natürlich hatte Akers einen guten Grund: er wäre sonst nie­mals Chef der Company geworden.
Akers war das Kind von Mother Blue, das sich in den sieb­zi­ger Jah­ren zu einem zutiefst selbstbezüglichen System entwickelte und da­bei Trends verpennte ‑ wie zum Beispiel das Aufkommen der Minis. Das System IBM woll­te sich evolutionär allein Richtung und Ziel sein wollte, ohne dabei noch etwas zu riskieren. Akers lehnte sich erst als Chairman dagegen auf ‑ und scheiterte. Ihm wurde schließ­lich die Auto­ri­tät entzogen.
Alles aus dem Nichts. Ein Nachfolger wird daran gemessen, ob er der Vater oder das Kind einer unternehmerischen Revolution ist. Die bei­­den Wat­sons haben ihrer Zeit den Stempel aufgedrückt. Der Senior war Loch­karte, der Junior war Elektronik. Die nächste Phase wäre Tele­kom­munikation gewesen, der Vorstoß in den Cyberspace. Aber jede Phase schafft sich auch ihre eigenen Bedingungen. Sie ver­langt den radikalen Bruch mit dem Bestehenden. Sie braucht eine Stunde Null, den Start aus dem Nichts. Und jeder Unternehmensführer muß dazu die Chance erhalten. Er muß seine eigene Autorität durchsetzen ‑ und zwar nicht erst dann, wenn er an der Spitze steht.
Watson erntete mit der /360 die Erfolge, die er in den frü­hen fünf­ziger Jahren mit dem Umstieg in die Elektronik gesät hatte. Des­we­gen gelang ihm die Einführung dieser Com­puter der dritten Ge­ne­ra­tion. So formuliert der Ex‑IBMer Hart: »Mit dem Schritt zur /360 und weg von dem, was IBM bislang hatte, setzte die Firma bei­nahe ihre Existenz aufs Spiel. Und mit dem Versuch, auf einen Schlag eine neue Architektur, neue Software und neue Tech­­no­lo­gie zu kreieren, hatte IBM wie niemals wieder in ihrer Ge­schich­te alles ris­­­kiert.«[6] Sie konnte es aber wagen, weil sich die Stunde Null bereits früher er­eignet hatte. Die alte IBM hat­te 1956 im Rahmen eines Anti­trust‑Ver­­fah­rens ver­sprochen, al­­le Pa­ten­te, die sie hielt und ihr bis 1961 noch zu­ge­­sprochen wer­den wür­den, gegen eine geringe Gebühr an die Wett­be­­wer­ber abzu­ge­ben.
Das war ein gefährliches Spiel, wie Wat­son Jun. aus der Geschichte der Firma sehr ge­nau wusste.
POP‑Art. Sein Vater hatte 1949 der Bri­tish Ta­bu­lating Machines Co. (BTC) die Ex­klu­sivrechte für die Herstel­lung und Vermarktung von IBM‑Pro­duk­ten sowie die Nutzung von Pa­tenten erteilt ‑ mit dem Ergeb­nis, dass Big Blue selbst in den Ländern des britischen Common­wealth nur auf Platz 2 rangierte.
Im Vereinigten Königreich, in Australien, in Neu­­­seeland, Indien, Pakistan und Südafrika musste IBM gegen sich selbst kon­kur­rieren. Die Umsätze waren entsprechend mager. Schlim­mer noch: nur unter der Bedingung, dass 38 Prozent des Aktienkapi­tals in bri­ti­­sche Hände überging, hatte IBM überhaupt auf der Insel eine ei­ge­ne Ge­sell­schaft gründen dürfen. Für 28 Millionen Dollar hat­te dann 1959 Sohn Wat­son die Anteile zu­rück­ er­wer­ben lassen.[7]
Jeder wollte IBMs Patente ‑ die Japa­ner hatten der Gesellschaft En­de der fünfziger Jahre besonders hart zugesetzt. Sie sahen sich beim Aufbau einer eigenen Computerindustrie hoffnungslos im Rück­stand. Also wollten sie IBM mit staatlichem Druck zum Know‑how‑Trans­­fer zwingen. Doch die Firma blieb standhaft. Watson hatte sich allerdings auch in anderen Ländern nur mit dem Ver­spre­chen aus der Affäre ziehen kön­nen, daß IBM ihre Gewinne in den je­wei­ligen Märkten in den Aufbau von lokalen Fertigungs­stätten hin­ein­stecken würde.
Der Nationalstaat begann, seine Arbeitsplätze zu schützen. Wie aber sollte IBM die­sem Anspruch gerecht werden?
[1] Fortune, 11/60, Robert Sheehan: »Q: What grows fa­ster than I.B.M? A. I.B.M. Abroad«
[2] Computer­world, 4.6.90, Glenn Rifkin: »The price of beeing Watson Jr.«
[3] Kurt Blauhorn, Gü­tersloh 1970: »Erdteil zweiter Klasse? ‑ Eu­ro­pas technologische Lücke«
[4] Elec­tronics, 14.4.80, »Special Com­me­mo­rative Issue«
[5] Frank­fur­ter Allgemeine Zei­tung, 28.4.94: »War Oppenheimer ein Spion?«
[6] Computerworld, 3.11.1986, James Con­nol­ly/Jef­frey Bee­ler: »The price of success: IBM /370 system won`t die«
[7] For­­tune, 11/60, Robert Shee­han: »Q: What grows faster than I.B.M? A. I.B.M. Abroad«

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